#100 – Liebe Deinen Kunden – oder: Vom Selbstverständnis der „Groß“-Banker

Standpunkt 100

„Wenn Jeder nur an sich denkt, ist auch an alle gedacht!“

Es wird ja bekanntlich nirgends so viel gelogen wie auf Verabschiedungen, Beerdigungen und … Pressekonferenzen. Mindestens einmal im Jahr, meistens öfter, wird erzählt, wie gut man vorangekommen sei, wie erfolgreich man gearbeitet hat und warum man von allen Seiten Lob erwartet. Man fühlt sich an Wahlabende erinnert, wo nach krassen Verlusten immer noch eine viele Jahre zurückliegende, unbedeutende Regionalwahl angeführt wird, gegenüber der man sogar noch hinzugewonnen habe.

Jüngst habe ich gelesen, dass der Vorstandsvorsitzende einer sehr ambitionierten norddeutschen Regionalbank verkündete, dass man das Betriebsergebnis auf Vorjahresniveau halten konnte. Der Kommentator schrieb dazu, dass allerdings nicht erklärt wurde, dass man dieses Ergebnis nur aufgrund der Hebung von Reserven erreichen konnte.

Mitunter braucht es also Erläuterungen, um zu verstehen, was hinter den schönen Fassaden die eigentliche Botschaft ist. Noch schlimmer ist ja bei manchen Direktbanken oder Fintechs, die nach Jahren der Marktbearbeitung stolz verkünden, nicht mehr weit weg von einer „Schwarzen Null“ zu sein. Man fragt sich dann, ob man in den betriebswirtschaftlichen Seminaren etwas verpasst hat, nämlich, dass es eine Leistung sei, mit wirtschaftlichen Aktivitäten kein Geld zu verdienen. 

Manchmal aber, leider viel zu selten, findet man doch einen kommunikativen Edelstein, ein unverhofftes Geschenk, nämlich dann, wenn ein Vertreter/eine Vertreterin einer Bank eine Aussage macht, die entlarvend ist und tief blicken lässt.

So geschehen kürzlich durch einen Sprecher der Commerzbank (Quelle: Finanz-Szene), der über die gegenwärtige Kundenanzahl von „mehr als 10 Mio. Kunden“ berichtete. Auf die Nachfrage, was aus dem ambitionierten Plan der Bank geworden sei, den früher immer wieder verkündeten Kundenbestand von 12 Mio. mittelfristig auf 14 Mio. ausbauen zu wollen, sagte der Sprecher, dass man den Gesamtbestand „um inaktive Kunden angepasst habe, die kein ertragswirksames Produkt hatten“ und das Ergebnis sei eben, dass man nunmehr nur noch „mehr als 10 Mio. Kunden“ habe.

Erfahrene Standpunkt-Leser werden sofort erkannt haben, was da öffentlich gemacht wurde. Anders als auf den angesprochenen Pressekonferenzen, wo immer darüber gesprochen wird, dass man selbstverständlich nur im Kundeninteresse unterwegs sei, wird hier klar und deutlich gesagt, was jeder langjährige Kunde einer Großbank weiß bzw. selbst schon erlebt hat und viele Menschen leider auch aus Regionalbanken kennen, wo dieser Bazillus Einzug gehalten hat (und das sind leider sehr viele). 

Die Botschaft lautet, dass Du nur Kunde sein darfst, wenn die Bank mit Dir ordentlich Geld verdient. Es ist also nicht die Verantwortung der Bank, sondern ihres Kunden, wenn man sich trennen muss, denn der Kunde könnte schließlich mehr Produkte kaufen. Die Philosophie dahinter lautet, und das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Du, lieber Kunde, bist für uns da, nicht wir für Dich!

Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die Kohorten in den Vertriebsstäben dieser Bank die Kundenbestände durchforstet haben und alle Kunden, die unter einer festgelegten Ertragsgröße liegen, mehr oder weniger freundlich ausgemustert haben. Das führt dann dazu, dass man den Durchschnittsertrag je Kunde steigert, weil der gleichgebliebene Ertrag durch weniger Kunden dividiert werden muss.

Das führt uns deutlich vor Augen, wie weit das Bankgeschäft immer noch von einem normalen Industriebetrieb entfernt ist, denn ein im lebendigen Wettbewerb stehendes Unternehmen sieht in jedem Kunden dessen Potenzial und den Ansporn, diesen Kunden zu aktivieren. Die Älteren von uns erinnern sich vielleicht noch an die „goldenen Zeiten“ bei Daimler Benz, wo die Fahrzeuge verteilt, nicht verkauft wurden. Und wenn ein Kunde sich erdreistete, Forderungen etwa nach höherem Rabatt zu stellen und mit Nicht-Abnahme des bestellten Fahrzeugs drohte, zuckte der Verkäufer (Verteiler) nur mit den Schultern: „You make another customer happy!“.

Der oben beschriebene Bazillus der egozentrischen Rendite-Orientierung lebt ungebremst im Bankenlager und verbreitet sich durch die Membrane zwischen Groß- und Regionalbanken. Je mehr Top-Manager, die in den Großbanken sozialisiert und mit dem Rendite-Bazillus infiziert wurden, in Regionalbanken wechseln, umso stärker droht die Gefahr der pervertierten Kundenorientierung.

Das hat in den vergangenen Jahrzehnten zu heftigen Fehlentwicklungen in den Verbund-organisationen geführt, weil dieses Rendite-Denken zuerst in den Verbänden Einzug gehalten hat, die dann über „Strategieprojekte“ versucht haben, den Genossenschafts- und Sparkassen-Managern beizubringen, wie man Rendite steigert.

Fortan galt das Filial-gestützte Mengengeschäft als Last, als Verlustbringer, weshalb man sich auf die „Gehobenen Kunden“ und das „Private Banking“ stürzte. Jede Sparkasse und jede Genossenschaftsbank, die etwas auf sich hält, hat ein Private Banking, weil man gelernt hat, dass man mit dem „Affluent Client“ viel mehr verdienen kann als mit dem normalen Arbeitnehmer.

Leider, und das hat sich leider noch nicht wirklich herumgesprochen, gibt es für alle Banken zu wenige Private Banking-Kunden, um dauerhaft nur von diesen leben zu können. Das ist frustrierend, weil man jetzt nicht so recht weiß, wie mit dem unattraktiven Geschäft umgegangen werden soll. Entsprechend lustlos wird das Mengengeschäft betrieben.

Es geht allen Regionalbanken wie der Commerzbank. Sie haben eine Fülle inaktiver Kunden. Und bislang hat es die geballte Intelligenz in den Verbänden und in den Stabsabteilungen noch nicht geschafft, Instrumente und Prozesse zu entwickeln, die diese Menschen (denn inaktive Kunden sind ja keine „Kunden“ im klassischen Sinn) dazu zu bewegen, mit der Bank in Kontakt zu treten.

Man könnte auf die Digitalisierung hoffen, aber dort droht der nächste Denkfehler. Wenn die „Kunden“ erst einmal digital unterwegs sind, dann ist der Wettbewerbsvorteil der Bank, in der diese Kunden zwar inaktiv, aber irgendwie doch verbunden sind, dahin.

Was würde ein Industrieunternehmen tun, wenn es feststellen würde, dass über die Hälfte seiner „Kunden“ inaktiv sind? Wahrscheinlich wäre die erste Botschaft, dass man prinzipiell Zugang zu diesen Kunden haben müsste, wenn man auf sie zugehen würde (zweite Botschaft). Man würde vermutlich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um mit diesen Kunden in Kontakt zu treten, um zu zeigen, was man als Unternehmen zu leisten imstande ist.

Ein sehr gutes Beispiel ist die Kundenbetreuung von Porsche. Seit vielen Jahren werden Kunden von Porsche kontaktiert, erhalten Angebote und Einladungen. Es werden Sondermodelle aufgelegt, um immer wieder Neugierde zu wecken. Und nicht immer wird vom Kunden sofort ein neues Auto gekauft, aber man bleibt im Gespräch, und das über Generationen.

Das funktioniert aber nur, wenn es wirklich eine Marktbearbeitungs-Philosophie gibt, in der Kunden, gleichgültig, ob aktiv oder inaktiv, im Mittelpunkt des Interesses stehen und sich alles Denken und Tun auf die Gewinnung von Marktanteilen, d.h. der Aktivierung nicht-aktiver Kunden ausrichtet.

Es zeigt, wie weit der Weg für die meisten Bankmanager noch ist, im wirklichen Wettbewerb anzukommen. Wer glaubt, es sich noch leisten zu können, inaktive zu unerwünschten Kunden zu erklären, der hat den sprichwörtlichen Schuss noch nicht gehört, sprich: lebt noch in der heilen Welt von Daimler-Benz im vergangenen Jahrhundert.

Inaktive Kunden sind das Potenzial zum Überleben, denn überalterte Kundenbestände in den Regionalbanken, betreut von Kundenberatern, die sich seit Jahrzehnten nicht weiterentwickelt haben und gesteuert von intelligenten Vertriebsmanagern, die viele Ideen haben, aber noch nie einen Kunden akquiriert haben, können nicht die Zukunft sein.

Es ist wohl die Königsdisziplin im Bankmanagement, erfolgreich Marktanteile auszubauen, und dies nicht mit kostenlosen Girokonten oder anderen subventionierten Produkten zu erreichen, sondern durch Kundenkontakt, Engagement und Leistung.

Dazu bedarf es motivierter Mitarbeitender, die verstehen, warum sie gefordert sind und warum es eine lohnende Aufgabe ist, mit Menschen in Kontakt zu treten und ihnen bei ihren finanziellen Fragen zur Seite zu stehen. Mit dem erreichten Betriebsergebnis oder der EK-Rendite wird man die eigenen Mitarbeitenden nicht begeistern; dazu bedarf es größerer intellektueller Anstrengungen. Das ist auch die Erklärung dafür, dass es nur wenigen Top-Managern in Banken gelingt, dauerhaft Marktanteilswachstum zu realisieren. Es fehlt am Verstehen, am Willen und am Vermögen, weil zu viele Manager noch in der Rendite-Welt gefangen sind.

Wir wissen noch nicht, was aus der Commerzbank werden wird. Kann sie ihre Selbständigkeit behalten oder wird sie Teil eines noch größeren Bank-Kolosses?

Diese Bank war einmal eine Institution, wie andere deutsche Großbanken auch. Sie waren nicht nur mächtig; sie waren auch Instanzen. Selbstverständlich haben sich die Rahmenbedingungen geändert, aber es ist auch zu attestieren, dass die intensivierte und fortgesetzte Ausrichtung an der Rendite-Maximierung (denken wir an Ackermann) jedenfalls nicht dazu beigetragen hat, die Banken in ihrer Existenz zu sichern.

Es ist eben schwierig, zu bestehen, wenn man die Kunden nicht achtet. Und nicht jeder inaktive Kunde versündigt sich gegenüber der Bank, weil er mit anderen Banken seine Geschäfte macht. Es könnte auch daran liegen, wie sehr man sich um ihn bemüht hat.

Der Sprecher der Commerzbank, der uns offen sagt, mit welchem Selbstverständnis uns die Bank behandelt, hat uns einen großen Dienst erwiesen. Eine Bank, die eine solche Philosophie vertritt, braucht man nicht; es wäre somit nicht schade, wenn sie unterginge.

Ich hoffe, die Regionalbanken ziehen daraus die richtigen Lehren. Man kann sich als Sparkasse oder Genossenschaftsbank nämlich nur glücklich schätzen, solche Wettbewerber zu haben. Aber wenn der Ball nun auch auf dem Elfmeterpunkt liegt, muss man ihn trotzdem erst verwandeln.

Herzliche Grüße aus Brand

Hans-Dieter Krönung