#101 -Risiko oder Stabilität – oder: Der Zauber der Zahlen

Standpunkt 101

„Intuition ist Vernunft unter Zeitdruck“

(Holbrook Jackson)

Die Allermeisten von uns haben keine guten Erinnerungen an Mathematik in der Schulzeit, weshalb sich sicher die Allerwenigsten von uns mit der Frage beschäftigt haben, ob die Menschen die Mathematik „entdeckt“ oder „erfunden“ haben. Wenn Sie jetzt denken, dass das eine rein akademische Frage sei, haben Sie grundsätzlich recht.

Aber es steckt hinter diesem Thema auch eine fundamentale Frage: Können wir mit Hilfe der Mathematik unsere Welt vollständig erklären bzw. ist die Mathematik unser zentraler Zugang zu allen Fragen unserer Existenz?  

Man kann heute zwei grundsätzliche Denkschulen unterscheiden, die auf die griechischen Philosophen Platon und Aristoteles zurückgehen. Platon war der Auffassung, das gesamte Universum sei ein in sich geschlossenes System, das aufgrund einfacher physikalischer Gesetze funktioniere, die man grundsätzlich auch erkennen und beschreiben könne. Und wenn man die Entwicklung der Erkenntnisse der Physik seitdem zusammenfasst, spricht einiges dafür, dass dem so ist, denn seit Newton und Einstein können wir Planeten-bewegungen berechnen und die Relativität der Zeit messen, und zwar mit Hilfe der Mathematik.

Mehr noch: Wir sind sogar in der Lage, mit Hilfe mathematischer Berechnungen Voraussagen über die Existenz von physikalischen Phänomenen zu machen, die z.T. erst Jahrzehnte später experimentell nachgewiesen werden konnten (s. Higgs-Teilchen). Das spricht sehr dafür, dass wir mit Hilfe der Mathematik in der Lage sind, unsere Welt zu erkunden, was wiederum dafür spricht, dass die Mathematik unabhängig von Mathematikern existiert, also „entdeckt“ und nicht „erfunden“ wurde.

Aristoteles dagegen untersuchte die Elemente des Lebens und kam zu der Erkenntnis, dass unendlich viele Faktoren zusammenwirken müssen, um Leben zu erschaffen und dass vieles davon auch von Zufällen abhänge, somit also unvorhersehbar sei. Wenn man sich Arbeiten von Darwin und Freud zur Evolution und zur Psychoanalyse ansieht, kann man auch dieser Sicht viel abgewinnen. Seitens der „Platoniker“ wird häufig darauf verwiesen, dass die Sicht von Aristoteles und seinen „Nachfolgern“ lediglich auf Informationslücken basiere und sich in der Zukunft zeigen werde, dass auch biologische Prozesse wie die Evolution oder psychologische Phänomene letztlich physikalisch und damit einer mathematischen Beschreibung zugänglich seien.

Die Mathematik gilt als die Krone der Wissenschaft und Herzstück der logischen Vollkommenheit. 2 plus 2 ist 4 und nichts anderes; das lernen wir schon im Kindesalter. Und wir haben auch schnell begriffen, dass zwei Stück Schokolade besser sind als nur ein Stück. Zählen und Bewerten liegen uns im Blut und prägt auch unsere Bewertungsansätze für „gut“ und „schlecht“. Aber ist die Mathematik wirklich unfehlbar? Ist unser Vertrauen in die Welt der Zahlen wirklich gerechtfertigt?

Es ist spannend, die diesbezügliche Entwicklung in der Mathematik zu verfolgen, und diese Entwicklung ist untrennbar mit dem Namen Kurt Gödel verbunden. Gödel war ein deutscher Mathematiker, der nachwies, dass die Mathematik keineswegs unfehlbar sei, was wiederum dafür sprechen könnte, dass die Mathematik doch eine menschliche Erfindung ist.

Um es einfach zu machen: Gödel konnte zeigen, dass trotz korrekter Einhaltung mathematischer Regeln unsinnige Ergebnisse entstehen können (das Gödel´sche Unvollständigkeits-Theorem). Stellen Sie sich vor, eine Schildkröte und ein Hase machen ein Wettrennen. Die Schildkröte erhält einen Vorsprung von einem Meter. Es lässt sich nun nach Gödel eine vollkommen korrekte mathematische Funktion aufstellen, nach der der Hase mit jedem Schritt die Distanz zur Schildkröte halbiert. Es ist offensichtlich, dass eine solche Funktion zu dem Ergebnis führt, dass der Hase die Schildkröte niemals einholen kann, denn er halbiert ja jeweils nur die Rest-Distanz zur Schildkröte. Das ist ein offensichtlich unsinniges Ergebnis.

In diesem Sinn konnte Gödel zeigen, dass mathematische Regeln keineswegs immer zu logisch einwandfreien Ergebnisse führen. Und somit diskutieren die Anhänger Platons und Aristoteles` weiter über die Relevanz und die Bedeutung der Mathematik als Grundlage unseres Verstehens der Welt.

Ungeachtet der Tragweite dieser philosophischen Frage können wir heute attestieren, dass in den Unternehmen ebenfalls diese Konkurrenz der Denkschulen existiert, die durchaus bedeutsamen Einfluss auf die Machtstrukturen in den Führungsstrukturen hat. Die Welt der Zahlen ist die Herrschaft über Planung und Berichte, während die Welt der Emotion die Herrschaft über das Verhalten von Menschen beansprucht.

Leider gehen diese Verantwortungen oft durcheinander. Die Herrscher über die Zahlen haben zumeist den platonischen Anspruch, immer recht zu haben, und sehen sich auch in der Steuerungsverantwortung. Nicht umsonst heißt die Organisationseinheit, die für Messen und Zählen im Vertrieb zuständig ist, oft Vertriebs-„Steuerung“, so als hätten diese KollegInnen in dieser Stabsabteilung wirklich die Verantwortung für die Vertriebserfolge und -misserfolge. Das ist genauso offensichtlich unsinnig wie die Unmöglichkeit des Hasen, die Schildkröte einzuholen.

Aus Sicht vieler Controller bilden allein die Zahlenwerke die Realität ab, weshalb die sich häufig einstellende mangelnde Übereinstimmung von Planung und Realität auf die Unzulänglichkeit der Rest-Organisation zurückzuführen sein muss. Und es kommt ja nicht selten vor, dass der Vorstand eines Unternehmens offensichtlich ungenügend durchdachte Maßnahmen ergreift (z.B. Hebung von Reserven), um ein geplantes Ergebnis auch ausweisen zu können, obwohl die Realität eigentlich eine andere ist.

Das Kernproblem ist, dass das Hoheitsgebiet Zahlen-orientierter Erkenntnis die Analyse der Vergangenheit ist, denn diese ist (weitgehend) sicher. Es mangelt daher in keinem Unternehmen an analytischer Kompetenz und Erkenntnis. Das, was bereits geschehen ist, lässt sich umfassend und tiefschürfend analysieren und abbilden. Das Problem entsteht dann, wenn in die Zukunft gedacht wird, was ja das eigentliche Arbeitsgebiet des Top-Managements ist.

Seit Bernoulli und der Erfindung (Achtung: nicht Entdeckung) der Wahrscheinlich-keitsrechnung liefert die Mathematik auch hierzu Lösungsansätze in Form von Simulationen. Simulationsrechnungen sind die Grundlage für Planungen, die wiederum die Grundlage für Kommunikationen und Entscheidungen sind. Zu diesen Prozessen gibt es keine Alternativen.

Das Problem entsteht in den Köpfen der beteiligten Top-Manager. Auch wenn sich Gödel mit seinen Untersuchungen zur Unvollständigkeit der Mathematik nicht um betriebswirt-schaftliche Planungen gekümmert haben dürfte, so hat er uns doch dafür sensibilisiert, dass auch die detaillierteste Planung die künftig sich einstellende Realität nur höchst unvollkommen erfassen und abbilden kann.

Wenn also die platonische Illusion um sich greift, man habe mit der Planung die künftige Realität erfasst und es liege jetzt ausschließlich an den Führungskräften, diese Planung auch Realität werden zu lassen, haben wir es mit einer höchst gefährlichen Entwicklung zu tun, weil die Sensibilität für die Komplexität und Dynamik der Realität verkümmert, was wiederum sehr häufig zu einem Mangel an Resilienz und Reaktionsfähigkeit führt.

Ich bin mir sehr sicher, dass im Volkswagen-Konzern von vielen sehr intelligenten Menschen sehr gründliche und detaillierte Planungen erstellt wurden, die von bestimmten Annahmen ausgingen, Simulationen durchliefen und schließlich in eine Konzernplanung mündeten, die dem Aufsichtsrat und der Öffentlichkeit vorgestellt und damit zur zu erwartenden Realität wurde, um wiederum als Basis für üppige Gehalts- und Bonusstrukturen zu dienen. Offensichtlich ist es aber nicht gelungen, die politischen (s. USA) und wettbewerblichen (E-Autos aus Asien) Rahmenbedingungen so zu prognostizieren, dass der Konzern ausreichend resilient aufgestellt wurde. Volkswagen ist aufgrund im Wettbewerbsvergleich überhöhter Kostenstrukturen offensichtlich nicht in der Lage, günstige E-Autos wirtschaftlich attraktiv herzustellen.

Es ist ein Kollateralschaden der Zahlengläubigkeit im Top-Management der meisten Unternehmen, sich nicht einmal mehr zu trauen, Unsicherheit einzuräumen und einzuplanen. Zahlen suggerieren Sicherheit und damit Stabilität. Dabei wäre es viel wichtiger, Mitarbeitende und Eigentümer auf dauerhafte Veränderungsfähigkeit einzuschwören, um Resilienz und Reaktionsfähigkeit auszubauen. Insoweit ist die Sehnsucht nach Stabilität in unsicheren Märkten ein „Mega“-Risikofaktor.

Leadership bedeutet im Gegensatz dazu, im Spannungsverhältnis zwischen Chancen, Risiken und Ressourcen immer wieder die optimale Position zu finden, und das in einem sich kontinuierlich wandelnden komplexen Umfeld. Das bedeutet, dass man niemals alle Faktoren vollständig erfassen kann, die einen Einfluss auf das schließlich erzielte Ergebnis haben werden. Es gilt also, auf den Faktor Reaktionsfähigkeit ausreichend Aufmerksamkeit zu legen. Der Wunsch nach Sicherheit und Stabilität ist nachvollziehbar und menschlich, denn die meisten von uns sind nun einmal Risiko-avers strukturiert, aber für einen Top-Manager ist diese Einstellung eine Gefahr. 

Eine Planung, die sich als unrealistisch oder nur als nicht zutreffend erwiesen hat, abzuändern, ist kein Problem, allenfalls eine arithmetische Übung. Fatal dagegen sind die Auswirkungen auf Mitarbeitende und Eigentümer, denn Planabweichungen können das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens nachhaltig erschüttern, wenn vorab suggeriert wurde, das vorgestellte und verabschiedete Zahlenwerk der Planung sei mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das eintretende Szenario.

Es braucht Mut, die Komplexität und Dynamik der Realität anzunehmen und mit ihr statt gegen sie zu operieren. Leadership bedeutet in diesem Zusammenhang gerade nicht, den Eindruck erwecken zu müssen, die Zukunft vorhersagen zu können, sondern, sich und das Unternehmen optimal auf mögliche Entwicklungen vorzubereiten. Dazu sind umfangreiche Analysen der Vergangenheit nur ein kleines Hilfsmittel, bei weitem nicht das entscheidende. Man muss den Herrschern über die Zahlen den Platz einräumen, den sie verdienen, aber auch nicht mehr. Für die Bewältigung der Zukunft braucht es Fantasie, Leidenschaft und Denkvermögen …….. sowie auch das Bekenntnis zur Wissenslücke.

Auch Berufsmathematiker, also Menschen, die über die Entwicklung der Mathematik nachdenken, räumen ein, dass die Mathematik nicht perfekt ist und vielleicht auch niemals sein wird. Für uns „Normalsterbliche“ bedeutet das, sich vor übertriebener Zahlengläubigkeit zu schützen; die Zukunft ist nicht berechenbar, aber wir können uns auf sie einstellen.

Wie heißt es so schön: „You can not direct the wind, but you can adjust the sails!“ Das ist doch eine lohnende Perspektive.

Herzliche Grüße aus Brand

Hans-Dieter Krönung