#11 – Reibung und Qualität

Wenn man einen Vorstandsvorsitzenden von seinem „tollen Führungsteam“ oder dem „ausgezeichneten Teamgeist“ im Kollegenkreis sprechen hört, ist Vorsicht angesagt. In vielen Vorstands- oder Geschäftsleitungs-Gremien herrscht ein gutes Klima, weil sich Rituale im gegenseitigen Umgang so eingeschliffen haben, dass jedes Gremien-Mitglied, also bspw. jedes einzelne Vorstands-Mitglied, seine Rolle gefunden hat, ohne dass den Beteiligten dabei auffällt, dass sie mittlerweile einen kollektiven „Wahrnehmungsfilter“ aufgebaut haben, der sie gemeinsam nur noch das wahrnehmen lässt, was durch diesen Filter hindurch dringen kann.

Ich weiß nicht, ob Sie auch schon die Beobachtung gemacht haben, dass Hunde über die Jahre ihrem Herrchen oder Frauchen immer ähnlicher sehen, oder aber auch umgekehrt.

Ähnliche Beobachtungen mache ich häufig in Vorstandsgremien. Man hat sich miteinander eingerichtet, wie ein altes Ehepaar, das auch nicht mehr bemerkt, dass sich die Welt draußen anders darstellt, als man das selbst sieht. Und irgendwann denkt man auch ähnlich und nimmt die Welt um sich herum ähnlich wahr.

Diese „Domestizierung“ im Denken und Handeln erlebe ich sehr oft dort, wo ein dominanter Vorsitzender seit langem die Geschicke und Entscheidungsprozesse in einem Unternehmen beherrscht. Und tatsächlich glaubt er dann auch, dass in seinem engsten Führungskreis ein „gutes“ und „kollegiales“ Miteinander herrscht. Starke Persönlichkeiten neigen dazu, nicht nur punktuell in Einzelfällen Ihren Willen durchzusetzen, sondern sie prägen über die Zeit auch die Denkstrukturen ihrer Kollegen. Wie kommt das?

Wer sich einmal daran erinnert, wie sehr ihn im Laufe seiner beruflichen Entwicklung bestimmte Personen entscheidend geprägt haben, der weiß, dass diese Prägung vor allem durch intellektuellen Wettbewerb stattgefunden hat. Man hat sich zu einer Frage oder einem Problem seine Gedanken gemacht, trägt diese Sicht und die eigene Empfehlung dem erfahreneren Kollegen vor und erlebt, dass man nicht alles bedacht, einzelne Aspekte anders oder falsch beurteilt und die ganze Angelegenheit „nicht zu Ende gedacht“ hat.

Da es ja in den meisten Fällen keine objektiv nachprüfbare Wahrheit, sondern allenfalls einen empirischen Beleg für die Richtigkeit einer Entscheidung oder Empfehlung gibt, folgt man aus einer Mischung von inhaltlicher Überzeugung, Anerkennung der Erfahrung und hierarchischer Macht dann dem Rat des Kollegen und verarbeitet dies als eine Lern-Erfahrung, die darauf folgende Entscheidungssituationen prägt.

Ob die geäußerte Meinung des erfahrenen Kollegen und Vorgesetzten wirklich und wahrhaftig die beste Entscheidung ist, kann angesichts der inhärenten Dynamik und Komplexität von Management-Entscheidungen oft genug nicht wirklich beurteilt werden. Sie prägt aber über die Zeit das Denken und eben auch das Handeln der nachwachsenden Führungsgeneration.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Wir alle haben diese Art der Erfahrungen gemacht und viele dieser Erfahrungen haben uns nachhaltig weitergebracht.

Ich stelle nur die Frage, ob Entscheidungsgremien, die sich selbst ein gutes Zeugnis hinsichtlich Teamgeist, Kollegialität und gemeinsamen Werten ausstellen, immer ausreichend vor der Gefahr gewappnet sind, nicht offen genug zu sein für das „Andere“, den neuen Blickwinkel, die Veränderung und das Überraschende.

Vor einiger Zeit hatte ich den Auftrag, einem sich neu formierenden Vorstand dabei zu helfen, die gemeinsame Vision für das Unternehmen zu entwickeln, und nebenbei auch dabei zu unterstützen, den Teambildungs-Prozess im Vorstand voranzutreiben.

Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass die ersten Einzelgespräche einen alles andere als harmonischen Eindruck vom Miteinander der Vorstands-Mitglieder bei mir hinterließen. Aufgrund des sehr offenen Gesprächsklimas machte keiner der Gesprächspartner aus seinem Herzen eine Mördergrube und stellte sehr offen heraus, welche Eigenschaften er, bei allem Respekt für die Personen, bei den Kollegen vermisste und was ihn störte.

Dabei ging es weniger um charakterliche Themen als vielmehr um Typen-bedingte Unterschiede bei der Bewältigung von Management-Herausforderungen. Während der eine Kollege bei seinem Kollegen die Intellektualität vermisste und ihm reine Emotionalität bei der Entscheidungsfindung unterstellte, vermisste eben dieser Kollege bei seinem Gegenüber die Begeisterung für die Sache. Beide waren sich darin einig, dass der dritte Kollege zu wenig Input für die Diskussionen lieferte und sich zu schnell mit Erreichtem zufrieden gebe usw.

Allen gemeinsam war die Sorge, keinen gemeinsamen Grundtenor in ihrer Arbeit finden zu können, weil die beobachteten Unterschiede bei den handelnden Personen keine Nebensächlichkeiten, sondern elementare Management-Eigenschaften darstellten. Dahinter wiederum stand die berechtigte Sorge, der Vorstand könne als zerstrittenes Gremium im Unternehmen wahrgenommen werden.

Es wäre grundfalsch gewesen, zu versuchen, diese Typen-bedingten Unterschiede, die durchaus zu heftigen Auseinandersetzungen führten, zu nivellieren.

Zum einen wären Verhaltensweisen entstanden, die nicht mehr authentisch wären, zum anderen hätte sich der Vorstand einer historischen Chance beraubt, das ungeheure Potenzial eines heterogen strukturierten Teams zu nutzen.

Die Aufgabe für den Externen bestand darin, allen Beteiligten zu verdeutlichen, dass diese wahrgenommenen Unterschiede eine Stärke und keine Schwäche sind, wenn man die gegenseitigen Profile als sich ergänzende Potenziale begreift.

Die Eigenschaft, die der eine bei dem anderen vermisst, bringt er meist ja selbst im Team ein. Würden also alle das gleiche Profil aufweisen, brächte das gemeinsame Arbeiten im Team keinen Zusatznutzen. Gerade die Unterschiede müssen auch in einem Team kultiviert werden, weil sie die Wahrnehmungsoberfläche des Teams verbreitern.

Mitunter sind emotionale Herausforderungen zu bewältigen, und dann ist es gut, wenn ein Team-Mitglied dieses Terrain beherrscht. An anderer Stelle braucht es denjenigen, der bestimmte Themenstellungen tief durchdringen kann und Lösungskonzepte erarbeitet, an anderer Stelle wiederum ist das harte Durchsetzen von Entscheidungen gefragt. In allen diesen Fällen tut sich ein komplementär besetztes Führungsteam leichter als ein gleichartig besetztes, allerdings nur, wenn die gemeinsame Zielsetzung klar ist und gemeinsam verfolgt wird.

Der wichtigste Aspekt ist aber, dass ein in diesem Sinne heterogen besetztes Team, das diese Unterschiede auch kultiviert, in seiner kollektiven Wahrnehmung von Impulsen, seien es exogene oder endogene, also Unternehmens-interne, deutlich leistungsfähiger ist, weil die Vielfalt der Wahrnehmungen deutlich breiter ist. Der eine Kollege wird Dinge wahrnehmen, die der andere überhaupt nicht sieht et vice versa.

Wir Männer kennen dieses Phänomen, wenn unsere Frauen uns erstaunt darauf aufmerksam machen, dass wir nun bereits mehrfach am überfüllten Mülleimer vorbeigegangen sind, den wir einfach nicht wahrgenommen haben.

In diesem Sinne also erzeugt Reibung Qualität, weil unterschiedliche Wahrnehmungen in eine gemeinsame Entscheidung einfließen können und so die Qualität der Entscheidung ceteris paribus erhöhen.

Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass ein Vorstand, in dem permanent die Fetzen fliegen, deshalb alleine schon besonders leistungsfähig sei.

Es geht um deutlich mehr als eine geeignete Streitkultur, denn eine Streitkultur besagt ja implizit, dass es in dem Streit um eine gemeinsame Sache geht. Geht es nämlich bei der Reibung nicht mehr um die gemeinsame Sache, sondern um das Ausleben von Egoismen, ist die Grenze zum Destruktiven überschritten und Reibung wird zum Symptom für ein fehlendes Wir-Gefühl.

Jedes funktionierende Team braucht wahrnehmbare Reibung untereinander. Fehlt die Auseinandersetzung, weil man bspw. die Außenwelt nur noch über einen gemeinsamen, vom Vorsitzenden anerzogenen Wahrnehmungsfilter aufnimmt, droht der Autismus, und dies ist ein nicht selten zu beobachtendes Phänomen. Wenn man dann von Harmonie spricht, zeugt das von Realitätsverlust.

Streit an sich ist ebenfalls noch kein Erfolgsrezept, denn es droht der Verlust des Ausrichtens der individuellen Ziele am Gesamtziel des Unternehmens. Auch dies ist eher häufig zu beobachten, vor allem in großen Unternehmen.

In der Mobilisierung spielt der aus der Thermodynamik stammende Begriff der „Entropie“ eine große Rolle. Er beschreibt, frei übersetzt, ein Naturgesetz, das besagt, dass ein natürliches System, dem keine Energie zugeführt wird, immer über den Zeitablauf zum Energieausgleich, also dem geringsten möglichen Energieniveau, tendieren wird.

Bringt man also einen erwärmten Systemteil (hohes Energieniveau) und einen kalten Systemteil (geringes Energieniveau) zusammen, wird sich das Gesamtsystem nicht etwa auf einem mittleren, also lauwarmen Zustand einpendeln, sondern auf dem kalten, dem energie-ärmsten Zustand.

Ein Führungsteam ist ein „natürliches System“, und Reibung zwischen den Team-Mitgliedern kann eine wichtige Energiequelle zur Aufrechterhaltung eines höheren Energieniveaus sein. Auseinandersetzung, ja sogar regelmäßiger Streit um die Sache, kann also ein Ausdruck von Kollegialität und Teamgeist sein; Friedhofsruhe dagegen ein Zeichen für fehlende Kollegialität, weil sich fehlende Wertschätzung für den Kollegen auch darin äußern kann, dessen Meinung im Team nicht zu respektieren, insbesondere, weil sie „anders“ ist.

Leider verstehen viele Vorstandsvorsitzende den Begriff „Meinungsaustausch“ dahingehend falsch, dass sie glauben, wenn es gelänge, bei den Kollegen deren Meinung durch die eigene zu ersetzen, bereits „Meinungsaustausch“ stattfände. Diese Vorstandsvorsitzenden sprechen dann eben gerne von dem „tollen Führungsteam“ oder dem „ausgezeichneten Teamgeist“, weil sie gar nicht registrieren, dass sie im Grunde alleine sind.

Diese Führungsmodelle können lange Zeit „funktionieren“, weil keine besonderen Herausforderungen anstehen und/oder der Vorstandsvorsitzende bei seinen faktisch einsamen Entscheidungen keine gravierenden Fehler macht.

Auch er muss sich allerdings klarmachen, dass er in Fällen, wo das Team wirklich gefordert ist, weil die Kräfte auch des besten Vorstandsvorsitzenden überfordert sind, ebenfalls alleine sein wird, weil das Team nicht darauf trainiert ist, als Team gemeinsam zu agieren.

Es herrscht Gedränge am „Helden-Notausgang“, und der Vorstandsvorsitzende steht plötzlich alleine auf der Brücke. Beklagt er sich dann über mangelnde Kollegialität, muss er sich vorhalten lassen, jetzt nur die Rechnung für seine „Scheinwelt“ im Führungsteam präsentiert zu bekommen, die er über Jahre kultiviert hat.

Dagegen sind Teams, die sich intensiv auseinandersetzen, mitunter vor sich selbst zu schützen, weil sie den Streit übertreiben und die Mitarbeiter verunsichern – aber in ihnen steckt das Potenzial einer großen Leistungsfähigkeit.   

Ich freue mich daher immer wieder, wenn ich in Gesprächen im Führungskreis diese Form der Energie spüre, weil ich merke, dass es dann möglich ist, Großes zu schaffen, wenn es gelingt, die Kräfte zu bündeln.

Die Zukunft gehört vernetzten Strukturen mit starken Führungsteams an der Spitze, die weniger über Hierarchie als über Vorbild führen. Reibung ist in diesem Umfeld ein wichtiger Katalysator für Entscheidungsqualität, weil Reibung Offenheit und Transparenz fördert und davor schützt, die Scheuklappen allzu eng zu setzen.

Stellen Sie Ihren „Teamgeist“ kritisch auf den Prüfstand und lassen Sie sich immer wieder einmal den Spiegel vorhalten. Sie werden überrascht sein, was Sie alles entdecken werden.

Viel Spaß dabei und herzliche Grüße aus Brand

Hans-Dieter Krönung