Gerade ist Bob Dylan 70 Jahre alt geworden. Es ist jetzt schon über 40 Jahre her, dass er sang: „The times they are a`changin`“.
Ganz gewiss hat er ein kleines Stück dazu beigetragen, dass die Welt ein wenig besser geworden ist, obwohl er auch „Blowin` in the wind“ sang, und das klingt ja eher nach Resignation.
Würde man die Manager von heute fragen, ob sich in den vergangenen 40 Jahren auch das Management der Unternehmen verändert bzw. verbessert hat, wie würde wohl die Antwort ausfallen?
Wahrscheinlich würde die Mehrheit antworten: Teils – teils.
Wir verfügen heute über bessere Informationen und besser ausgebildete Mitarbeiter, aber wir agieren auch in hektischeren und komplexeren Märkten. Ob wir dabei tatsächlich vorangekommen sind, muss jeder für sich selbst bewerten.
Eines ist aber ohne Zweifel ein konstantes Kennzeichen der vergangenen 40 Jahre: Die permanente Arbeit an den Prozessen!
Die Reduzierung der Kosten durch Straffung der Prozesse, die Beschleunigung von Abläufen durch Optimierung der Durchlaufzeiten, die Neudefinition von Wertschöpfungsketten durch Business Reengineering, die Verankerung von Qualitätsmerkmalen in den Produkten, die Intensivierung des Vertriebes durch standardisierte Prozess-Unterstützung; überall und zu jeder Zeit laufen in allen Unternehmen kleine oder große Projekte zur Optimierung der Prozesse.
Das Schlagwort heißt „Industrialisierung der Arbeitsprozesse“ und suggeriert alles das, was man sich als Manager von „seinen Prozessen“ wünscht: Effizienz, Stabilität, Qualität; und am besten noch als permanente Innovationsmaschine.
Ich kann nicht abschätzen, was alle Unternehmen in der Welt in den vergangenen 40 Jahren für ihre Bemühungen, optimale Prozesse zu erreichen, ausgegeben haben, aber ich denke, es ist eine wahrhaft astronomische Summe. Und obwohl ich nicht bestreiten kann, dass dabei bestimmt auch ein Nutzen erzielt wurde, fehlt mir bis heute der überzeugende Beweis für eine Korrelation zwischen Prozessoptimierungs-Aufwand und nachhaltiger Ertragskraft.
Manchmal erscheint es mir sogar fast umgekehrt zu sein, nämlich dass eine hohe Intensität in Prozessoptimierungsfragen sehr oft einhergeht mit geringem wirtschaftlichen Erfolg, getreu dem Motto: „Als sie die Orientierung verloren hatten, verdoppelten sie ihre Geschwindigkeit“.
Dennoch ist kein Thema im Management so allgegenwärtig wie „Prozess-Optimierung“. Gerade in größeren Unternehmen, wo man sich insbesondere in den Zentralen früher die Zeit mit permanenten Umorganisationen vertrieb, ist man seit langem “auf den Prozess gekommen“, d.h. es sind permanent interne und externe Truppen unterwegs, um Prozesse transparenter, effizienter und vor allem beherrschbarer zu machen.
Und so ist natürlich jedes neue Thema, sei es ein aufsichtsrechtliches, ein fachliches oder ein technisches, ein willkommener Anlass, „die Prozesse zu optimieren“.
Und natürlich gilt für Fertigungsprozesse in der Industrie oder für hoch-technisierte Abwicklungsprozesse, dass die Gestaltung der Abläufe sehr großen, mitunter sogar entscheidenden Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens hat. Medienbrüche, komplexe Schnittstellen und redundante Funktionen kosten Geld und Zeit und müssen optimiert werden.
Haben wir aber nicht viel zu leichtfertig dieses Prinzip des Zusammenhangs zwischen Prozessmanagement und Unternehmenserfolg auf alle Bereiche eines Unternehmens übertragen?
Wiegen wir uns durch die Abbildbarkeit und Messbarkeit von Prozessen nicht in trügerischer Sicherheit, „die Dinge“ in Unternehmen im Griff zu haben?
Müsste es uns nicht stutzig machen, dass es viele Unternehmen gibt, die trotz großer Anstrengungen in Prozess-Optimierungen nachhaltig nicht erfolgreich sind bzw., dass Unternehmen mit tendenziell gleichartigen Prozessen, IT-Systemen und Produkten sehr unterschiedliche Erfolgsbilanzen aufweisen?
Prozesse sind für das Top-Management ein süßes Gift. Sie suggerieren Beherrschbarkeit und Automatismus. Welcher Manager träumt nicht davon, dass „der Betrieb“ wie von selbst läuft, dass man nicht ständig Fehler ausbügeln, Pannen verhindern und zu Leistung anspornen muss.
Sehr oft beschreiben mir Top-Manager, wie bei ihnen im Haus die Abläufe sind. Sie beschreiben, wie Kunden angesprochen, wie sie beraten und wie dann diese Informationen im Haus systematisch verarbeitet werden. Und sehr häufig denke ich mir dann: „Das glaubt er doch wohl selbst nicht“.
Aber er glaubt es, weil er sich wünscht, dass es so (automatisch und beherrscht) läuft.
Es ist in diesen Fällen keine leichte, oft sogar eine sehr undankbare Aufgabe, diese Illusion zu relativieren, weil meist eben nicht sein kann, was nicht sein darf.
Es hilft, sich noch einmal sehr gründlich anzusehen, woher diese Prozess-Gläubigkeit kommt. Eine wesentliche Quelle ist Henry Ford, der mit Hilfe von Frederick Taylor die Automobil-Fertigung Anfang des vergangenen Jahrhunderts revolutionierte.
Er nutzte die große Zahl der verfügbaren, aber schlecht ausgebildeten Arbeitssuchenden, die seinerzeit in Amerika zu beklagen waren, indem er die komplexen Tätigkeiten des Automobilbaus in sehr kleine Einzelschritte zerlegte, so dass auch Angelernte relativ schnell
diese Tätigkeiten, eingebunden in eine Fließband-Fertigung, erlernen und ausführen konnten. Dadurch gelang es, die günstigen Lohnkosten mit großen Stückzahlen zu verbinden und sehr erfolgreiche, weil erschwingliche Autos, nämlich das berühmte Modell T, herzustellen.
Dieses Erfolgsmodell wurde millionenfach kopiert und gilt auch heute noch als der Inbegriff einer durch Prozess-Management geschaffenen Erfolgsgeschichte.
Man kann aber auch die „andere Seite“ dieses Erfolgsmodells beleuchten. Es handelte sich bei der Mehrzahl der Arbeiter um ungelernte und daher gering motivierte Mitarbeiter, weshalb ein umfangreiches Kontrollsystem eingeführt werden musste. Das Fließband war so gestaltet, dass die Arbeiter Teil des Räderwerks waren, was Charlie Chaplin ja zu seinem wunderbaren Film „Modern Times“ animierte.
Relativ wenige Manager steuerten und lenkten eine große Anzahl von Menschen, die sie eng kontrollieren und präzise steuern mussten. „Controlling“ wurde damals noch mit „K“ geschrieben.
Welches Menschenbild wurde damals in den Unternehmen geschaffen und kultiviert? War es das Menschenbild eines engagierten, dem Unternehmen und seinen Zielen loyal verbundenen Menschen, der seine Kreativität und seinen Ehrgeiz einbringt, bestmögliche Leistungen zu liefern? Wohl kaum.
In der Taylor`schen Arbeitsteilung ist der Mensch die unerwünschte und gleichzeitig unvermeidbare Imponderabilie in der ansonsten reibungslosen Maschinerie der industriellen Fertigung. Und tatsächlich wird die menschliche Wertschöpfung in den Industrien mit hohem Automatisierungspotenzial beständig weiter reduziert und durch maschinelle Lösungen ersetzt.
In den modernen, vernetzten Unternehmen der Dienstleistungsbranchen, in Forschung und Entwicklung oder in Projekt-intensiven Branchen ist aber der menschliche Wertschöpfungsanteil nicht nur hoch, sondern auch erwünscht. „Mitarbeit“ ist nicht nur Erfüllung von Aufgaben, sondern auch „Mitgestalten“, und dieses Mitgestalten macht oft den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg aus.
Insbesondere bei allen Tätigkeiten, bei denen Menschen auf Menschen treffen, also idealtypisch im Vertrieb von Produkten und Dienstleistungen, können sich Menschen an vorgeschriebene Prozesse halten, ohne dabei ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Der Kundenberater einer Bank kann die erforderliche Anzahl von Beratungsgesprächen durchführen, ohne dabei Leidenschaft und Kreativität für den Kundenwunsch zu empfinden.
Der Misserfolg stellt sich ein, obwohl sich der Berater streng an die Prozess-Vorgaben gehalten hat. Sehr häufig versucht das Management dann, durch noch engere Prozess-Vorgaben bzw. ergänzende Prozesse wie Incentive- und Gehaltsmodelle das individuelle
Verhalten „in den Griff“ zu bekommen. So entstehen dann gigantische Prozess-Landkarten, die das Unternehmen in seinen „Innereien“ abbilden sollen.
Sehr beliebt sind diese Prozess-Landkarten bei dem Versuch, die Effizienz eines Unternehmens spürbar und nachhaltig zu reduzieren. Es ist die Perfektion von Schopenhauers „Illusion der Beherrschbarkeit“, wenn ein großes Unternehmen jeden Prozess im Unternehmen abbilden und optimieren will.
Wer verstehen will, warum dies niemals funktionieren kann, sollte nach San Francisco fahren, um die Anstreicher auf der Golden Gate-Brücke zu beobachten, die jeden Tag des Jahres damit beschäftigt sind, die Brücke mit Korrosionsschutz-Mittel gegen Rost zu schützen. Dabei arbeiten sie sich von einer Seite der Brücke Meter für Meter zur anderen Seite der Brücke, nur um dann auf der anderen Seite wieder von vorne anzufangen. Warum?
Weil die Brücke in der Zeit, die die Anstreicher gebraucht haben, um die Brücke bis zur anderen Seite zu streichen, vorne wieder Rost angesetzt hat.
Genauso verhält es sich mit Prozessmanagement-Landkarten. Hat man alle Prozesse einmal beschrieben, hat sich zwischenzeitlich wieder so viel verändert (nicht nur „Rost“, sondern auch sinnvolle Anpassungen), dass man alleine mit dem Abbilden niemals wirklich fertig wird. Die IT-Verantwortlichen kennen dieses Phänomen noch als „Unternehmensweites Datenmodell“, das auch jeder entwickeln wollte, aber niemand jemals fertiggebracht hat.
Warum wird es dann immer wieder versucht? Wahrscheinlich, weil es im Management so etwas wie das „Kollektive Unterbewusstsein“ in Anlehnung an C.G. Jungs „Analytische Psychologie“ geben dürfte, und das verlangt nach System-Beherrschung durch Prozess-Management. Es ist wie die Suche nach dem heiligen Gral.
Nach meiner Beobachtung ist es zumindest ein offenes Rennen, ob sich das Geflecht der immer enger und aufwendiger konstruierten Prozess-Landkarten gegen die Kreativität unmotivierter Mitarbeiter bei der Identifikation von Ausreden und Schlupflöchern durchsetzen wird. Ich bin aber sehr skeptisch, was die Erfolgsaussichten der Prozess-Manager angeht.
Wir übersehen nämlich sehr oft, dass im Streben nach System-Beherrschung durch Prozess-Management auch inhärent eine Misstrauens-Kultur gezüchtet wird. Das Management, das glaubt, nur über Prozesse führen zu können, begeht zwei große Fehler:
- Es bringt seinen Mitarbeitern gegenüber nicht das Vertrauen entgegen, dass diese sich selbst im Rahmen einer gegebenen Ordnung um Qualität und Zielerreichung im Sinne der Unternehmensziele ausreichend einbringen und
- Es läuft Gefahr, zu glauben, dass das Prozessmanagement die operative Führung ersetzt, dass es gewissermaßen sicherstellt, dass das Unternehmen wie ein „Perpetuum mobile“ läuft, ohne dass sich das Management um die operative Führung kümmern müsste.
Beide Fehler sind häufig anzutreffen, niemals deutlich artikuliert, aber meist deutlich zu beobachten. Prozessmanagement-Gläubigkeit geht oft einher mit nicht-präsenter Führung, geringer Wirkungstiefe des Top-Managements und unklaren Zielbildern, wohin genau das Unternehmen sich entwickeln will. Wie sagte doch Camus so treffend: „Das Streben nach Ordnung ist oft nur der äußere Wunsch, mit einer großen inneren Unordnung fertig zu werden“.
Prozesse sind ein wesentlicher Teil der notwendigen inneren Ordnung eines Unternehmens, aber sie sind nur notwendige, niemals hinreichende Bedingung für den Unternehmenserfolg. Gute Prozesse sind besser als schlechte oder ineffiziente Prozesse, aber auch mit nicht-perfekten Prozessen können Mitarbeiter umgehen, wenn sie motiviert sind. Es gibt in Unternehmen mit hohem menschlichem Wertschöpfungsanteil keinen Zusammenhang zwischen Prozess-Qualität und Unternehmenserfolg.
Die Grenze zwischen Gebrauch und Missbrauch von Prozessmanagement liegt in jedem Unternehmen an einer anderen Stelle, aber sie ist dort überschritten, wo das Management glaubt, durch Prozessmanagement Ziele erreichen zu können, die tatsächlich nur über Führung zu erreichen sind. Wenn jetzt jemand spitzfindig meinen würde, „Führung“ sei ja schließlich auch ein „Prozess“, der hat den wahren Kern von Führung nicht verstanden.
Aber das ist ein anderes Thema.
Wer noch in der Vorstellungswelt lebt, die Welt und das Unternehmen seien im Kern nur große Maschinen, in denen Menschen bitte nur das tun sollten, was auf dem Reißbrett als Prozess-Landkarte entwickelt worden ist, die sollten Bob Dylan zuhören.
Allen anderen wünsche ich einen klaren Blick auf das Wesentliche und eine sichere Hand beim Abwehren der Management-Wunderheiler mit der Prozess-Trickkiste.
Herzliche Grüße aus Brand
Ihr Hans-Dieter Krönung