Vor ein paar Wochen sprach ich mit dem für Back Office zuständigen Vorstand einer großen Sparkasse u. a. über die wieder einmal neu gestaltete Aufbauorganisation seines Kollegen, der für den Privatkunden-Vertrieb (Retail) zuständig ist.
Da sich mir die Logik der Umbaumaßnahmen nicht erschlossen hatte, nutzte ich die Gelegenheit des persönlichen Termins bei dem Back Office-Kollegen, um mich schlau zu machen.
Seine verblüffende Antwort war, dass er diese Maßnahmen auch nicht nachvollziehen könne, dass es aber auch schließlich die Angelegenheit seines Kollegen sei, wie er seinen Bereich organisieren würde. Schließlich würde er sich auch verbitten, von seinem Kollegen Kommentare zu seinen eigenen Bereichen zu erhalten. „Man ist schließlich Unternehmer, da muss man Verantwortung für die eigenen Themen übernehmen“, waren seine Schlussworte.
Als ich etwas länger über dieses Erlebnis nachdachte, fiel mir auf, dass diese Argumentation, die ja einem bestimmten Grundverständnis der eigenen Aufgabenstellung und Verantwortung entspringt, relativ häufig anzutreffen ist.
In der Tat habe ich sehr häufig mit Gesamt-Vorständen zu tun, bei denen die einzelnen Mitglieder sehr autark agieren, was die Struktur der grundsätzlichen Aufbauorganisation bzw. die Schnittstellenstruktur angeht.
So strukturiert der eine Vorstand die Einheiten eher kleinteilig und mit vielen Schnittstellen und Ebenen, der andere Vorstand im gleichen Institut sortiert seine Strukturen nach handelnden Personen und deren Wünschen, während der dritte Vorstand eine eher großflächige Verantwortungsstruktur bevorzugt.
Selbstverständlich spricht man im Gesamt-Vorstand über bevorstehende oder geplante Veränderungen in der Aufbauorganisation, aber eher in einem berichtenden als einem zur Diskussion stellenden Sinne.
Mir ist über die vergangenen Jahre immer schleierhaft geblieben, warum insbesondere die Personalabteilungen dieser Häuser diesem Treiben so tatenlos zugeschaut haben, denn das oben geschilderte, absolut realitätsnahe Beispiel schafft ja mindestens einmal heterogene Führungs- und Verantwortungsbereiche, ganz abgesehen von einer Organisations-Philosophie, die sich an ganz unterschiedlichen Prinzipien der Zusammenarbeit orientiert, vom „Teile und herrsche“ bis zur „integrierten Gesamtverantwortung“.
Ein Bereichs-übergreifend einheitliches Verständnis von Führungsverantwortung wird sich in solchen Instituten schwerlich umsetzen lassen, verbunden mit erheblichen Problemen, objektivierte Gehaltsbemessungs-Grundlagen zu definieren. Und so ist in diesen Instituten auch die „Vetternwirtschaft“ sehr ausgeprägt, d.h. die zuständige Führungskraft bis hinauf zum Vorstand ist beständig bemüht, „ihrer Klientel“ etwas Gutes in Gestalt von
Gehaltserhöhungen oder Boni zukommen zu lassen, um sich beliebt zu machen, und sei es auf Kosten des Gesamtunternehmens. Gehaltsrunden in diesen Instituten sind daher auch immer eher eine „Basar-Veranstaltung“ als eine sachliche Auseinandersetzung über den Wert von Geleistetem.
Ab und an wird dann ein Personalberater beauftragt, in das Chaos des Personalmanagements Ordnung zu bringen, indem Stellen „eingewertet“ werden, was leider viel zu oft in der Festschreibung der bestehenden Gehalts- und Bonifikationsstrukturen endet, eben weil niemand an den Besitzständen etwas ändern möchte.
Wie kommt es aber eigentlich zu diesen, von den meisten Beteiligten auch als ärgerlich bis frustrierend empfundenen Zuständen? Wo liegt die Wurzel der Fehlentwicklung, an der es anzusetzen gilt?
Wir leben in einer Zeit der Prozess-Euphorie. Das mag manchem erfahrenen Manager fremdartig klingen angesichts der vielfach frustrierenden Erfahrungen mit den „Erfolgen“ von Prozessoptimierungs-Projekten.
Und dennoch ist nicht zu bestreiten, dass das Prozessoptimierungs-Treiben noch immer in vollem Gang ist. „Willst Du etwas verändern, geh` an die Prozesse“, ist doch noch immer der Leitspruch für Veränderungsimpulse.
Wer tritt heute schon noch auf mit dem Credo: „Ran an die Aufbauorganisation!“ Stellen Sie sich vor, Sie müssten mit diesem Slogan auf einer großen Management-Konferenz einen Vortrag halten. Wahrscheinlich würden Sie sich schämen, weil Sie davon ausgehen müssten, Ihre Zuhörer würden Sie für einen Zeitreisenden halten, der sich aus den 50er- oder 60er-Jahren in die Gegenwart verirrt hätte. Genauso gut könnten Sie auch ein Plädoyer für die Atomkraft auf einem Grünen-Kongress halten.
Aufbauorganisation ist nicht nur nicht en vogue, sondern zutiefst un-sexy in Bezug auf die Zusammenarbeit in modernen Führungsstrukturen. Heute ist man selbständig und verantwortungsbewusst, d.h. man agiert im eigenen Verantwortungsbereich möglichst autonom und konsequent, meist natürlich auch anders als der Vorgänger. Dies führt ja in den meisten großen Instituten zu beständigen Umorganisationen.
So ist die Management-Welt, in der wir leben, häufig durch starke Management-Autonomie gekennzeichnet, d.h. abgesehen von übergreifenden Prozess-Optimierungen sortiert sich jede Top-Führungskraft in ihrem Bereich so, wie sie das für richtig hält.
Früher gab es starke Organisations-Abteilungen, die für „Ordnung“ sorgten, und viele Top-Manager halten es für einen Entwicklungsschritt, dass diese Funktion in vielen Häusern verkümmert ist, dass sich zwar sehr intensiv mit der Weiterentwicklung der Prozesse sowie der zugrundeliegenden Informationstechnologie (IT) beschäftigt wird, eine aktive Steuerung der Organisation im Sinne der Ausrichtung von Verantwortungsstrukturen aber nicht mehr stattfindet.
In der IT gab es auch einmal den Irrtum, man könne auf die meist unbequemen IT-Manager verzichten, indem man die Verantwortung für die Gestaltung und Weiterentwicklung dezentralisierte und den Fachbereichen überantwortete. Das fand man „modern“, „unternehmerisch“ und „tatsächlich mitgestaltend“, bis man merkte, dass das Chaos in Gestalt von explodierenden Kosten, technischem Wirrwarr und operativen Risiken Einzug hielt.
Das ist eine der schönen Seiten der IT, dass man doch relativ schnell und deutlich merken kann, wenn etwas schief läuft.
In der Organisationsentwicklung haben wir diese Erkenntnis noch vor uns, denn aufbauorganisatorische Fehlentwicklungen sind häufig unter einem dichten Gestrüpp von anderen Symptomen verborgen. Meist vermutet man Führungsprobleme hinter hohen Fluktuationsraten oder unterdurchschnittlicher Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter und handelt entsprechend, indem man Führungskräfte schult oder austauscht.
Ich hielte es für einen gewaltigen Fortschritt, wenn sich Gesamt-Vorstände wieder deutlich stärker um die grundlegende Einheitlichkeit ihrer Führungsphilosophie kümmern würden. Damit meine ich, dass es den meisten Instituten an einer übergreifenden Management-Disziplin fehlt, einem Corpsgeist, dessen organisatorische Ausprägung ich „Organisations-Hygiene“ nenne.
In einer „kompakten“ Management-Struktur, d.h. wenn die Vorstände und Führungskräfte es als selbstverständlich ansehen, gemeinsam über wesentliche Grundlagen der Organisationsgestaltung, der Strukturierung von Verantwortungsbereichen sowie des damit verbundenen Führungsverständnisses zu sprechen und dann auch nach einheitlichen Richtlinien und Normen zu handeln, wird die kollektiv gelebte Ordnung als Kraftquelle für Leistungsbereitschaft einer Organisation wirken. Ordnung und Disziplin, nicht miss zu verstehen als „Befehl und Gehorsam-Kultur“, schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl, indem deutlich gemacht wird, dass alle an einem Strang ziehen und sich alle, vor allem der Vorstand, an diese Normen und Regeln hält.
Günstlingswirtschaft, Bereichs-Egoismen und Sonderregelungen zerstören die Glaubwürdigkeit der Führung; sie beschädigen oder zerstören eine gesunde Unternehmenskultur. Und niemand bestreitet wohl ernsthaft, dass die Unternehmenskultur einen wichtigen Beitrag zum Erfolg eines Unternehmens leisten kann.
„Organisations-Hygiene“ ist ein wichtiges Element der Grundlage einer Unternehmenskultur, nämlich der gelebten und empfundenen Management-Disziplin.
Damit geht nicht einher, die Verantwortung der einzelnen Führungskraft zu relativeren. Ordnung schafft nur einen Rahmen, der als Richtlinie aller Einzel-Entscheidungen zu respektieren ist.
Erweist sich eine Richtlinie als nicht mehr zeitgemäß, muss sie für alle sichtbar geändert werden.
Ist ein Einzelfall nicht sinnvoll mit Richtlinien vereinbar, muss der Einzelfall als solcher eindeutig dokumentiert werden und darf nicht als Präzedenzfall für Missbräuche herhalten dürfen.
Ich plädiere mit der „Organisations-Hygiene“ weniger für eine Renaissance der alten Organisations-Richtlinien, von denen viele Selbstzweck und auch weltfremd waren oder über die Zeit wurden.
Ich strapaziere dieses Thema, weil sich vielfach dieses Phänomen in sein Gegenteil verkehrt hat. Wir haben keine Ordnung und Disziplin mehr, weil wir Ordnung dezentralisiert haben, um operativen Aufwand einzusparen. Damit einher ging aber auch der Verlust der Vorbild-Disziplin der Führungsmannschaft in vielen Instituten.
Wir haben vielfach Führungskulturen der Willkür geschaffen, in der Vorstände nicht mehr berechenbar geworden sind, weil sie sich an keine Grundsätze mehr halten, sondern nur noch ad hoc entscheiden. Das gilt dann als „entscheidungsfreudig“, ist aber unprofessionell.
„Organisations-Hygiene“ ist Ausdruck von Management-Disziplin, von gemeinsam getragenen, für alle verbindliche Richtlinien, in denen auch eine Werteverständnis zum Ausdruck kommt.
Wenn eine Regel als selbstverpflichtend von allen Führungskräften gelebt wird, ist dies ein wichtiger Kulturbestandteil. Wie man sich organisiert, regelt, wie man Schnittstellen verstanden wissen will, wie Verantwortungsbereiche auf welchen Ebenen beschaffen und bewertet werden sollen und wie Bereichs-Egoismen entgegengewirkt werden soll.
Solche Richtlinien kanalisieren Denken und Handeln von Menschen in einer Organisation, jedenfalls, wenn sie als verpflichtend für alle wahrgenommen werden.
Selbstverständlich ist das Einführen von Richtlinien, zumal organisatorischen, mit Aufwand verbunden, denn Ordnung zu schaffen, bedeutet Energie zuführen zu müssen. Organisatorisches Chaos hat für viele Führungskräfte einen trügerischen Charme, nämlich den Charme der Gestaltbarkeit, aber auch den Charme der Anonymität, denn wer sich für seine Maßnahmen nicht rechtfertigen muss, lebt in der Intransparenz. Anonymität ist aber eine wesentliche Ursache für Fehlentwicklungen, sei es hinsichtlich Führung oder fachliches Management.
Ich habe gelernt, dass Unternehmen, die über lange Zeit überdurchschnittlich erfolgreich sind, auch durch „Corpsgeist“ auszeichnen. Corpsgeist ist aber Ausdruck einer gelebten inneren Management-Disziplin. Management-Disziplin ist ihrerseits Ausdruck eines kompakten Management-Selbstverständnisses, bei der sich jeder (!) in den Dienst der gemeinsamen Sache stellt.
„Organisations-Hygiene“ sollte also in diesem Sinn nicht als Plädoyer für ein altertümliches Management-Verständnis missverstanden werden, sondern als wesentlicher Bestandteil eines im positiven Sinne geordneten Unternehmens, in dem Regeln dazu da sind, befolgt zu werden, weil sie von allen als sinnvoll angesehen werden.
Dieser Teil, nämlich die Akzeptanz von Regeln, ist der entscheidende, weil er ein Blicklicht auf die Qualität der Kultur in einem Unternehmen wirft.
Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute, Ihrem Unternehmen eine intakte Kultur und uns allen Erfolg im täglichen Streben.
Herzliche Grüße aus Brand
Hans-Dieter Krönung