#19 –  Die kleinen Dinge – oder: Wie wird man Vorbild?

The simple things that come without a price, I´ve seen it all from so many sides, and I hope you would agree, the best things in life are the simple things

(Joe Cocker)

Der alte Joe hat gewiss genug erlebt, genug gewonnen und wieder verloren, das Leben von allen Seiten genossen und erlitten, dass man ihm abnimmt, wenn er sagt, was wirklich wichtig ist. Wer ihn singen hört, hat nicht das Gefühl, dass es ihm Freude bereitet. Zu leidend, zu grob klingt seine raue Stimme, um Freude und Leichtigkeit zu zeigen. Er ächzt vielmehr und presst die Worte heraus, aber alles, was er singt, erinnert uns daran, was das Leben auch ist, nämlich ein beständiger Kampf.

Mich hat Joe Cocker immer berührt. Geboren mit körperlichen Gebrechen, die seine Körperhaltung beim Singen immer etwas merkwürdig erscheinen lassen, das Woodstock-Erlebnis, das ihn über Nacht zum Star werden ließ, der Ruhm und der Absturz; und das Comeback nach der Läuterung.  Man muss seine Musik nicht lieben, aber er war immer authentisch, und genau dies hat ihm die Zuneigung vieler Menschen zugetragen. Ich denke, für viele Menschen war und ist er ein Vorbild, gerade weil es das Leben mit ihm nicht immer gut gemeint hat.

Ich habe in den vergangenen drei Jahrzehnten viele „Leader“ erlebt, manche, die kamen und schnell wieder gingen, manche, die in sich immer mehr sahen als sie waren, und andere, die praktisch immer erfolgreich waren.

Heute trifft man weit weniger als früher den Typus des alten Patriarchen, der wie ein absoluter Herrscher im Unternehmen agiert, sondern viel häufiger den Technokraten der Macht, gut ausgebildet und selbstbewusst, mit großem Kommunikationsgeschick und klarem Blick für das Wesentliche.   Diese „modernen“ Manager kennen alle relevanten Kennzahlen, nach denen ein Unternehmen erfolgreich zu steuern ist, denn schließlich haben sie einen MBA oder etwas Vergleichbares, lieben die Optimierung von Prozessen und wissen viel mehr über die Geheimnisse des Geschäftserfolges als sie preisgeben. Gespräche mit diesen Managern sind meistens amüsant, aber eher deprimierend, weil sie schon alles wissen und noch mehr:  Sie geben einem den Eindruck, dass man nur ansatzweise begriffen hat, wie es wirklich funktioniert. Sie lächeln dann milde und sagen: „Ja, Sie haben Recht. Aber eigentlich geht es ja um etwas anderes, nämlich …“.

Wie wohltuend sind dagegen die „einfachen“ Manager, die offen sagen, dass sie nicht sicher sind, ob sie alles richtig machen, die zuhören können und die auch manchmal aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen. 

Ich kenne einen sehr bescheidenen Vorstand einer recht großen Regionalbank, der seit Jahren jeden Monat einen Tag auf einer Zweigstelle „seiner“ Bank Schalterdienst leistet. Er ist der einzige Vorstand, den ich kenne, der diese Disziplin an den Tag legt. Dabei geschieht dies nicht etwa aus Langeweile, sondern weil es ihm ein Anliegen geworden ist. „Das erdet“, sagt er manchmal.

Und die Kollegen zahlen es ihm zurück. Dabei erwarten sie von ihm keine Wunderdinge am Schalter, sie sehen es ihm gerne nach, wenn er bestimmte Eingaben oder Prozess-Schritte nicht beherrscht. Auch die Kunden reagieren überrascht, aber positiv, wenn sie erfahren, dass sie von einem Vorstand des Hauses bedient worden sind.

Warum  ist es eigentlich so ungewöhnlich, dass sich Vorstände dorthin begeben, wo eigentlich das Geschäft mit den Kunden gemacht wird?

Jeder Vorstand hat im Laufe seiner Ausbildung und seines beruflichen Werdegangs Führungsseminare besucht, gelernt, dass man kommunizieren muss, sich austauschen mit den Kollegen, vor allem aber, sie ernst zu nehmen.

Viele Vorstände, die ich kenne, setzen diese Empfehlungen tatsächlich um. Sie laden ein- oder zweimal  im Jahr zu einer Mitarbeiterversammlung, tragen ihren Text oder ihre Folien vor und mischen sich dann beim anschließenden Steh-Imbiss „unters Volk“. Das verstehen sie dann als „Kommunikation“ und „ernst nehmen“.

Mitunter geht diese Art der Kommunikation sogar so weit, dass es organisierte Treffen des Vorstandes mit ausgewählten Mitarbeitern, selbstverständlich in den Vorstands- oder Empfangsräumen, gibt, bei denen „ungezwungen“ über alles geredet werden kann.

Mir wurde zugetragen, in einer deutschen Großbank habe es vor vielen Jahren ein ähnliches „Projekt“ gegeben, bei dem sich ein Vorstand in einer Region oder einer Filiale ansagte. Das Projekt hieß „Hierarchiefreie Kommunikation“. Die betreffenden Mitarbeiter hatten dann vorab Fragen an den Vorstand zu richten, die dann vom entsprechenden Stab gefiltert und vor-beantwortet wurden, so dass dann bei dem großen Termin die ausgewählten Fragen und die vorgefertigten Antworten ausgetauscht wurden. Das Programm bekam daher im Mitarbeiterkreis den Titel „Kommunikationsfreie Hierarchie“.

Was erfährt der Vorstand in solchen „sterilen“ Umgebungen. Manches, auf jeden Fall aber nicht das, was ihn interessieren sollte. Mehr noch: Mit dieser auf die Bedürfnisse des Vorstandes zugeschnittenen Kommunikationslogik signalisiert er doch eigentlich noch mehr.

Er macht deutlich, was für ihn wirklich wichtig ist, nämlich dass er ein Klischee erfüllen will, „volksnah“ zu sein. Ich will nicht blasphemisch klingen, aber diese Veranstaltungen haben doch eher den Charakter eines Gottesdienstes, und genau darin liegt das Problem.

Der legendäre Steve Jobs testete jedes Gerät und jede Anwendung selbst, bevor sie in den Markt gingen. Martin Winterkorn, der VW-Chef, ist wohl der gefürchtetste Testfahrer bei seinen Entwicklungs-Ingenieuren, weil er jedes Modell eigenhändig testet und jeden Messestand akribisch kontrolliert.

Warum? Weil es das ist, was das Unternehmen ausmacht. Kann man denn den Respekt vor seinen Mitarbeitern besser ausdrücken als nah an dem Produkt zu sein, für das das Unternehmen steht? Wo findet denn „Bank“ statt, wenn nicht in der Beratung von Kunden oder der Abwicklung der Kundengeschäfte?

Der Vorstand, der sich den ganzen Tag in Gremien und bei der Analyse von Management- Informationen beschäftigt, sollte nicht von „Vorbild“ reden. Herrhausen hat ja einmal gesagt, dass man das, was man tut, auch sein muss. Damit meinte er die Authentizität der Führungskraft, und die zeigt sich nicht in den „Sonntagsreden“ oder edlen, aber seltenen Gesten. Sie zeigt sich in der Konsistenz der vielen kleinen Dinge, des  gelebten Respekts vor dem, was tagtäglich geleistet wird.

Kürzlich sprach ich mit einem lang gedienten Vorstandsvorsitzenden über seinen neuen Kollegen, der das Filialgeschäft übernommen hatte. Dabei fiel die Äußerung, dass er es schon gut fände, dass der neue Kollege zunächst beschlossen habe, alle Filialen in den ersten sechs Monaten mindestens einmal zu besuchen. Aber danach müsse er endlich „anfangen, richtig zu arbeiten“. 

Bei vielen Managern ist es verpönt, viel Zeit mit der Arbeitsebene zu verbringen. Miteinander reden gilt nicht als „Arbeit“.

Was aber bewirkt der Vorstandsvorsitzende, der beim jährlichen Betriebsfest mit dem Leiter einer sehr entfernt gelegenen Filiale ins Gespräch kommt, und nachdem er erfahren hat, dass auf dieser Filiale noch nie ein Vorstand gewesen ist, einen Besuch verspricht – und dieses Versprechen auch einhält? Der Besuch ist für die Filialmitarbeiter vergleichbar mit der Mondlandung oder einem Led Zeppelin Revival Konzert. Die Filiale ist geschrubbt und gewienert, die Damen waren alle beim Friseur, der Filialleiter presst sich noch einmal in seinen Kommunionsanzug; es gibt Kuchen und Erinnerungsfotos werden geschossen. Der Vorstandsvorsitzende verspricht, die marode Küchenzeile erneuern zu lassen und spricht von der Verantwortung der Mitarbeiter vor Ort und der Tatsache, dass man stolz sein müsse, für eine solche Bank und mit solchen Mitarbeitern zu arbeiten.

Ich glaube, dass diese Art der Wertschätzung eigentlich nicht in Geld aufzuwiegen ist. Es sind eben die kleinen Dinge, bzw. die Konsistenz des Verhaltens bei den kleinen Dingen, die die Wertschätzung ausdrücken. Wem diese Dinge nicht wichtig sind, der wird sie immer wieder verschieben und schließlich als lästig empfinden. Wem sie aber wichtig sind, der zeigt damit auch seine Wertschätzung.

Ohne Wertschätzung gibt es aber keine offene Kommunikation, und offene Kommunikation ist ein wesentlicher Faktor für das Entstehen einer Vorbildfunktion, auch für andere Führungskräfte.

Gerade Vorstandsvorsitzende werden von den Mitarbeitern akribisch beobachtet; man achtet auf die kleine Dinge: Redet er von „Wir“ oder „Sie“, nimmt er sich Zeit, zuzuhören, hält er Zugesagtes ein, kommuniziert er wertschätzend, hat er eine Grundposition zu den Fragen, die gestellt werden und, beginnt er bei schwierigen Maßnahmen zuerst bei sich selbst, bspw. in Fragen des Kostensparens.

Authentisch und Vorbild ist aber nur der, der erkennbar mit-arbeitet. Wer die Neukundengewinnung zu einem Hauptziel macht, der wird dann authentisch und zum Vorbild, wenn er sich selbst abzuarbeitende Adressen vornimmt und versucht, das Beste zu geben. Wer nur ausrechnet, dass es noch und wie viele Potenziale gibt, der führt, wie Henry Mintzberg einmal sagte, das Unternehmen „mit der Fernbedienung aus dem Fernsehsessel“. Das ist nicht nur bequem, sondern auch falsch.

Niemand erwartet, dass der Vorstand jeden Tag in der Woche im „Maschinenraum“ der Beratung und des Services vor Ort sein muss, denn schließlich muss auch jemand auf der Brücke stehen, damit der Dampfer den richtigen Kurs fährt.

Die „großen“ strategischen Dinge erwartet man ja sowieso und zu Recht von einer Top-Führungskraft, aber in den kleinen Dingen zeigt sich der Charakter. Das Beispiel der „Peanuts“ hätte niemals so hoch gespielt werden können, wenn es nicht auch entlarvend gewesen wäre. Keiner kann sich dauerhaft verstellen.

Und es ist auch nicht zu empfehlen, sich zu einem „Großen“ machen zu wollen, indem man sich immer nur auf die „großen Themen“ konzentriert und „das Fußvolk“ die Arbeit machen zu lassen. Wahrhaftige Größe entsteht durch Vorbild und durch Authentizität, durch Charakter, und die zeigt sich in den kleinen Dingen.

„I hope you agree“, sang Joe Cocker.

Herzliche Sommergrüße aus Brand,

Hans-Dieter Krönung