#20 – Die Bedeutung der Leitwölfe

„Obgleich ich über das Leben des Steppenwolfes sehr wenig weiß, habe ich doch allen Grund zu vermuten, dass er von liebevollen, aber strengen und sehr frommen Eltern in jenem Sinne erzogen wurde, der das „Brechen des Willens“ zur Grundlage der Erziehung macht. Dieses Vernichten der Persönlichkeit und Brechen des Willens nun war bei diesem Schüler nicht gelungen, dazu war er viel zu stark und hart, viel zu stolz und geistig“.

(Hermann Hesse, Der Steppenwolf)

In den späten 60er Jahren, als die Jugend gegen das Establishment aufbegehrte, war der „Steppenwolf“ von Hesse so etwas wie die „Bibel“ des Widerstandes. Viele Künstler und Intellektuelle, aber vor allem Jugendliche aus allen Schichten ließen sich von Harry Haller, dem Steppenwolf, beeinflussen und leiten. Er stand für eine bestimmte Form des Widerstands, nämlich das stille Ablehnen von Normen und Gesetzen. Es ist kein Zufall, dass Peter Fonda auf seinem  Motorrad zu den Klängen einer Band mit dem Namen „Steppenwolf“ zur Ikone wurde.

Wenn Sie gefragt würden, ob Sie in ihrem Unternehmen auch „Steppenwölfe“ haben, dann würden Ihnen sicher ganz bestimmte Gesichter einfallen, Menschen, mit denen es nicht einfach ist, die ihren eigenen Kopf haben und die nicht in das Schema des „normalen“ Mitarbeiters fallen.

Diese „Typen“ haben so manche Eigenschaft, die das Umgehen mit ihnen zur Mühe werden lässt. Sie haben eine eigene Meinung, sehr häufig sogar eine, die Sie nicht teilen, die möglicherweise sogar sachlich falsch ist. Sie legen Verhaltensweisen an den Tag, die zwar nicht der geschriebenen Ordnung widersprechen, aber doch erkennbar anders sind als die anderer Mitarbeiter.

Und sie haben eine Persönlichkeitsstruktur, die es Ihnen ermöglicht, ohne erkennbare Furcht vor der Hierarchie auch in größeren Runden ihre Meinung zu vertreten, mindestens aber deutlich durch ihre Körpersprache zu signalisieren, was sie von dem von Ihnen Gesagten halten. Besonders schwierig wird es dann, wenn diese „Typen“ auch mit einem großen Geschäftsverständnis ausgestattet sind, d.h. auch komplexe Themen inhaltlich durchdringen können und dadurch unangenehme Fragen stellen können.

Nicht selten handelt es sich bei diesen Menschen um Kollegen, deren Karriere schon seit einigen Jahren horizontal verläuft oder nie wirklich begonnen hat. Es ist zu vermuten, dass sich dann eine bestimmte Form von Frustration breit gemacht hat, die aber selten offen zutage tritt. Wer also versucht, tiefen-psychologisch dem Problem Herr zu werden, scheitert

an dem buchstäblich dicken Fell, das diese Menschen entwickelt haben; sie wollen partout nicht käuflich erscheinen, daher vermeiden sie auch jede persönliche Annäherung.

Diese „Typen“ können viele Jahre schadlos in einer Organisation vor sich hin leben, ihre Sonderrolle kultivieren und sich als „Steppenwolf“ bezeichnen; zum „Leitwolf“ werden sie dann, wenn ihnen die „normalen“ Mitarbeiter zuhören.

„Leitwölfe“ sind die „Führer“ jenseits der Hierarchie, die Entwickler und Treiber von informellen Netzwerken. Sie treten in der Regel nicht in den Personalvertretungen auf, denn sie gefallen sich in der Rolle der „außerparlamentarischen Opposition“.

Dennoch kennt man sie und ihr Wort hat Gewicht, denn sie sind oft diejenigen, die der „Masse“ der Mitarbeiter eine Orientierung geben, was eigentlich von der ein oder anderen Maßnahme wirklich zu halten ist und wie sie zu bewerten ist. Sie können gut gemeinte Absichten der Geschäftsleitung zunichte machen, indem sie in ihren Zirkeln ihre Ablehnung ausdrücken. Sie können aber auch schwierige Situationen retten, in denen die Erklärungen für Maßnahmen nicht ausreichend waren.

Das Management tut sich schwer mit den Leitwölfen, denn sie entziehen sich den etablierten Kommunikationsprozessen. Meist versucht eine neue Führungskraft, den Dialog mit den Leitwölfen bilateral aufzubauen, nicht erkennend, dass diese ihren Status opfern würden, wenn sie sich „einnehmen“ ließen. Nach einer Weile gibt die Führungskraft dann auf und schaltet auf „Gegnerschaft“ um, was die Klischees dann wieder vollumfänglich bedienen hilft. Danach finden alle ihre Rolle wieder und Robin Hood bekämpft den Sheriff von Nottingham bzw. umgekehrt.

Ich erlebe häufig, dass in diesen Fällen ein besonderes, aber eben nicht konstruktives Klima zwischen dem Management und den Leitwölfen besteht. Jede Partei bewegt sich in ihren Rollen und hat Sorge, eine Veränderung dieser Rolle als Schwäche ausgelegt zu bekommen.   

Leitwölfe befinden sich daher auch immer in einer Drucksituation, die sie sich gleichwohl niemals anmerken lassen dürfen. Sie müssen ihre Rolle konsequent spielen, dürfen dem Management niemals „auf den Leim“ gehen, andererseits auch niemals eine derartige Außenseitermeinung vertreten, dass sie sich isolieren. Ihre Kraft erhalten sie nämlich nur dadurch, dass sie eine mehrheitsfähige Meinung vertreten, die Ängste der Kollegen erfassen und strukturieren sowie Positionen vertreten, die eine gewisse Logik haben.

Ich erinnere mich an den jungen Abteilungsleiter im Firmenkundengeschäft einer Sparkasse, der auf den erfahrenen Berater traf, der die bestehenden Kunden kannte, das Geschäft aber nicht wirklich professionell entwickelt hatte. Die Diskussion zwischen dem „Besserwisser“

und dem „Dickschädel“ zog sich eine lange Zeit hin, ohne dass sich irgendetwas veränderte. Die Stimmungslage in der Abteilung gegenüber dem jungen Leiter war sehr kritisch, weil er den Leitwolf attackiert hatte. Auch das Einschreiten der Geschäftsleitung half nichts, denn es gab in den jeweiligen Diskussionsrunden immer wieder Absichtserklärungen, die dann aber nicht zu Veränderungen der Situation führten, weil jeder der Beteiligten wieder in seine Rolle verfiel.

Eines Tages änderte sich das Bild. Der erfahrene Berater begann, seine Arbeit im Sinne des Abteilungsleiters neu zu strukturieren, die Umgangsformen ließen an Schärfe nach und man sah die beiden ab und zu, wie sie bestimmte Dinge der beruflichen Art konstruktiv miteinander besprachen. Was war geschehen?  

Das Management hatte beschlossen, die bisher gültige Praxis der Zielvergabe zu verändern. Es war beschlossen worden, die Ziele nicht mehr auf den individuellen Berater zuzuweisen, sondern hatte Berater-Teams gebildet, die ihren eigenen Plan, ihre eigenen Ziele erstellen sollten, die dann mit der Geschäftsleitung zu verhandeln waren.

Es war natürlich klar, dass sich die Berater um ihren Leitwolf scharrten und ihn baten, den Prozess zu treiben und zu verantworten. Der Leitwolf konnte nicht ablehnen; er musste auf Bitte der Kollegen mit dem Abteilungsleiter die Planungen der Kollegen abstimmen, ihre Ziele festlegen und sie gemeinsam mit ihm in der Geschäftsleitung vertreten.

Der Leitwolf war aus seiner Komfortposition gerissen worden, indem man ihn mit seinen Kollegen und dem Abteilungsleiter in eine „Schicksalsgemeinschaft“ eingebunden hatte. Man hatte sogar zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, denn die neue Lösung wurde somit auch schrittweise zu einer von Allen akzeptierten Lösung, weil man erkannte, dass der Leitwolf sie auch mittrug.

Leitwölfe kann man nicht gewinnen; man muss sie einbinden in das, was ihre Rolle ausmacht, nämlich die Akzeptanz ihrer informellen Führungsrolle für die Kollegen. Die Achillesferse des Leitwolfs ist seine Akzeptanz bei den ihn umgebenden Mitarbeitern.

Organisationen, in denen Einzelkämpfertum gefördert wird, bspw. durch Einzelziele, erleichtern es den Leitwölfen, im Graubereich zwischen offiziellen und inoffiziellen Kommunikationsprozessen ohne persönliches Risiko zu agieren. Teamstrukturen und das Zusammenbinden von potenziell gegensätzlichen Interessen für gemeinsame Ziele bietet die einzige, wenn auch nicht immer garantierbar erfolgreiche Möglichkeit, Leitwölfe doch eingebunden zu bekommen.

Leitwölfe haben eine große Bedeutung für eine Organisation. Zu wissen, wer sie sind und was sie denken, ist eine wichtige Aufgabe des Managements, insbesondere in Zeiten der Veränderung. Leitwölfe können stabilisieren oder destabilisieren, aber man kann ihren Einfluss nicht vermeiden.

Der falsche Weg ist, sie zu bekämpfen oder zu ignorieren, denn das stärkt ihre Position. Da es in der Regel nicht gelingen kann, sie bilateral einzuwerben, bleibt als lohnender Weg nur die Einbindung in gemeinsame Team-Interessen.

Jede Organisation braucht Typen, selbst eine deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Typen können in schwierigen Zeiten den Unterschied ausmachen, wenn sie sich denn für die gemeinsame Sache einsetzen. Es lohnt sich daher, um die Leitwölfe zu kämpfen.

Herzliche Grüße aus Brand und eine schöne Vor-Weihnachtszeit.

Hans-Dieter Krönung