„Was diese Jungs machen, ist magisch. Das ist Kunst“
(José Carreras über den FC Barcelona)
Wir schreiben die 35. Minute im Finale der Fußball-Champions-League. Der FC Barcelona, die anerkanntermaßen beste Fußball-Mannschaft der Welt, spielt gegen irgendeine andere europäische Spitzenmannschaft, aber das interessiert niemanden, außer vielleicht die Fans der gegnerischen Mannschaft. Denn eines ist klar: Wenn es dem FC Barcelona auch an diesem Abend wieder gelingt, sein spielerisches Potenzial abzurufen, hat die andere Mannschaft keine Chance, das Spiel zu gewinnen.
In dieser 35. Minute geschieht nun das Unfassbare. Xavi Hernandes, der geniale Mittelfeld-Stratege des FC Barcelona, der mit unglaublich hohen Werten an Ballbesitz und überraschenden Pässen seine Kollegen in erfolgversprechende Positionen bringt, führt den Ball, hebt den Kopf, schaut nach links und passt den Ball mit einer kurzen überraschenden Bewegung nach rechts – und der Ball trudelt ins Seiten-Aus, ohne dass ein Mitspieler die Chance hatte, an den Ball zu kommen.
Die meisten Zuschauer trauen ihren Augen nicht, denn Xavi spielt eigentlich niemals einen Fehlpass. Sein Trainer springt auf und läuft schimpfend zur Seitenlinie. Xavi selbst läuft, nach einer kurzen Sekunde der Fassungslosigkeit, ebenfalls erkennbar wütend zu seinem Trainer. Und nun löst sich das Rätsel auf.
Beide, Xavi und sein Trainer, rufen den rechten Außenverteidiger Alves, einen Brasilianer der Weltklasse, zu sich, und es ist sofort klar zu erkennen, dass sich der brasilianische Ballkünstler von seinem Trainer und seinem Mitspieler eine Standpauke anhören muss, die sich gewaschen hat. Denn, und dies ist die Botschaft, es war nicht Xavis Fehler, den Ball ins Seiten-Aus gespielt zu haben, sondern es war Alves´ Fehler, nicht dort gestanden zu haben, wo Xavi ihn erwartet hatte.
Hochleistungs-Organisationen, ob im Sport oder in der Wirtschaft, sind darauf angewiesen, dass jeder weiß, was er zu tun hat. Wenn man, wie der FC Barcelona, ein überlegenes „Spielsystem“ geschaffen hat, das über Geschwindigkeit und Präzision ein Leistungsniveau darstellt, das von Wettbewerbern kaum kopiert werden kann, dann ist „Disziplin“ der entscheidende Erfolgsfaktor. Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn sich ein Basketball-Spieler oder ein Eishockey-Spieler, also Vertreter sehr schneller Sportarten, zunächst per Blickkontakt mit seinen Kollegen abstimmen müsste, wie man den Ball oder Puck nach vorne treiben will. Welcher Überraschungseffekt wäre damit für die gegnerische Mannschaft wohl verbunden?
Genau dieses Prinzip des hoch-disziplinierten Mannschaftsspiels hat der FC Barcelona perfektioniert.
Ich sehe große Parallelitäten zwischen erfolgreichen Sport-Mannschaften und erfolgreichen Unternehmen.
Kürzlich sprach ich mit einem langjährigen Beobachter einer weit überdurchschnittlich erfolgreichen Sparkasse über deren Erfolgsgeheimnis. Nach kurzem Nachdenken sagte er: „Was mir in den letzten Jahren immer aufgefallen ist, ist, dass dort die Führungsmannschaft kompakt steht“.
„Kompakt“ ist ein anderes Wort für „hoch-diszipliniert“. Ich kenne selbst viele Führungs-Teams, die aus wirklich erstklassigen Leuten bestehen, die Fähigkeiten besitzen, wie sie wenige Führungskräfte auszeichnen. Dennoch ist das gemeinsam erarbeitete Ergebnis unbefriedigend.
Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass hier eher nach dem „Sozietäts-Gedanken“ gearbeitet wird, d.h. jeder arbeitet in seinem Verantwortungsbereich engagiert und zielstrebig, aber eben auch nach eigenen Ziel- und Wertvorstellungen und, vor allem, für den eigenen Erfolgsausweis. Das „Gemeinsame“, das Unternehmen und die Mitarbeiter, für die man eigentlich zu arbeiten hat, sind dann eher die Plattform für das eigene Ego.
Nun könnte man es sich einfach machen und diese Egomanen dafür kritisieren, dass sie sich so verhalten. Und tatsächlich, auch der FC Barcelona hat sich darin versucht, internationale Stars zu integrieren und ist dabei des Öfteren gescheitert, weil sich bestimmte „Primadonnen“ eben nicht in ein hoch-diszipliniertes Gesamtgefüge integrieren lassen.
Es gibt aber ein wichtiges Wechselspiel zwischen „Disziplin“ und „Sinnstiftung“, das an dieser Stelle diskutiert werden muss. In den meisten Unternehmen gibt es nach meiner Beobachtung nicht das „Gemeinsame“ im Sinne dessen, wofür man gemeinsam kämpft. Beim FC Barcelona hat man sich zum Ziel gesetzt, nicht nur den erfolgreichsten, sondern vor allem auch den schönsten und fairsten Fußball zu spielen. Wer die „Biographie“ des FC Barcelona liest, wird sehr schnell erkennen, dass es hier um viel mehr als Fußball geht. Es geht um Identität in der Abgrenzung zum zentralen und royalen Madrid und zur Unterlegung des katalanischen Selbstverständnisses, also um den „Sinn“.
Wenn also der Wert des „Gemeinsamen“ erst gar nicht beschrieben ist, weil man ihn nicht für beschreibenswert erachtet, wie soll dann Ehrgeiz und Kreativität von Spitzenkräften kanalisiert werden? Ohne Orientierungsrahmen besteht keine wirklich objektivierte Chance zur Beurteilung individuellen Verhaltens. Mit anderen Worten: Wenn nicht klar ist, wofür sich gemeinsam zu kämpfen lohnt, kämpft eben jeder für seine eigenen Ziele. Wessen Versäumnis liegt dann vor?
Ich sehe vor meinem geistigen Auge Vorstandsteams, allerdings sehr, sehr wenige, in denen der Kampf für die gemeinsame Sache täglich spürbar ist, wo jedes Team-Mitglied seinen individuellen Ehrgeiz weitgehend in den Dienst der gemeinsamen Sache stellt, obwohl jedes Individuum durchaus auch zur Primadonna taugen würde. Diese Teams sind eigentlich immer deutlich erfolgreicher als andere Vorstands-Teams, eben weil sie mit großer Management-Disziplin agieren.
Ich kenne Häuser, in denen eine Vorstandsentscheidung auf der nachfolgenden Führungs-Ebene bestenfalls als Handlungsempfehlung angesehen wird und wo mir Bereichsleiter offen sagen, dass sie sich in erster Linie ihrem Bereich und nicht dem Gesamthaus verpflichtet sehen. Wenn man dann auf die Vorstandsebene schaut, stellt man zumeist fest, dass genau dieses Schema des Partial- oder Silo-Denkens dort auch zu beobachten ist. „Wie der Herr, so das Gescherr (die „Untergebenen“)“, wie man in Hessen sagt, um nicht die norddeutsche Variante mit dem Fisch strapazieren zu müssen.
Persönlich halte ich Management-Disziplin, also die Verbindlichkeit und Klarheit in der Führungs-Philosophie, für einen der wenigen Kern-Erfolgsfaktoren, und vor allem für denjenigen mit den größten zu beobachtenden Defiziten. Es ist insbesondere in der Finanz-Industrie ein oft zu beobachtendes Phänomen, dass man lieber suboptimale Entscheidungen bereit ist zu akzeptieren, als dem Kollegen vor das Schienenbein zu treten. Möglicherweise ist dieses Verhaltensmuster ein Zeichen dafür, dass in dieser Branche eigentlich erst in den vergangenen Jahren die Zeiten deutlich härter geworden sind und sich daher erst jetzt auch die Management-Usancen dem anpassen. Jedenfalls kenne ich vergleichbare Toleranzen in anderen Branchen wie der Automobil-Industrie eigentlich nicht.
Voraussetzung für ein „Spielsystem“ ist allerdings, dass die gemeinsame Sache als solche auch existiert und beschrieben ist. Leidenschaft für eine gemeinsame Sache entsteht am ehesten dann, wenn es allen Beteiligten reizvoll und sinnvoll erscheint, sich für sie einzusetzen. Das ist dann in der Regel keine Frage des Geldes, sondern eben der Sinnstiftung. Diese Sinnstiftung, die „Seele“, wie wir in der Mobilisierung sagen, ist das, für das zu kämpfen es sich lohnt.
Das „Spielsystem“ ist dann der Ausdruck der „Seele“, also die disziplinierte Übersetzung in das tägliche Tun. So würde ein Spieler des FC Barcelona nur im äußersten Notfall die in Deutschland über viele Jahre so beliebte „Blutgrätsche“ einsetzen, weil man sich auf das schöne und faire Spiel eingeschworen hat. Ein Spieler, der anders agiert, verliert den Respekt seiner Kollegen. Das ist gelebte (Management-) Disziplin.
Natürlich braucht man dann auch in der Abwehr andere Spieler als Schwarzenbeck oder Kohler, die primär Angst und Schrecken verbreitet haben, nämlich Abwehrspieler, die den Ball gepflegt und präzise nach vorne treiben können.
Das „Spielsystem“ basiert also nicht auf Gehorsams-Kultur, sondern auf der gemeinsamen Verpflichtung, wie zu agieren ist; dem Corpsgeist gewissermaßen. Das Unterwerfen des eigenen Egos gegenüber dem Gesamtziel drückt das Spielsystem aus, so wie Xavi es einmal formulierte, als er selbst zum Erfolgsgeheimnis des FC Barcelona befragt wurde: „Demut, Respekt, viel Arbeit und die Liebe zum Fußball“.
Nun können wir nicht alle spielen und agieren wie der FC Barcelona, aber wir können erkennen, dass dem Erfolgreichen, bei dem vieles so einfach aussieht, auch nichts in den Schoß gefallen ist. „The man on the mountain didn`t fall there“, heißt es in einem amerikanischen Sprichwort.
Ohne Disziplin im Management sind dem egomanischen Streben Tür und Tor geöffnet. Wohin überzogener Ehrgeiz und das übertriebene Streben nach dem eigenen Erfolg führen kann, muss hier nicht gesondert betont werden; wir alle kennen leider mehr als genug Fälle.
Ich erlebe Spielsysteme als befreiend, weil effizient, klar und zielstrebig. Entscheidungen werden zügig, weil nur am Unternehmensinteresse orientiert, getroffen und konsequent umgesetzt. Das hilft auch den Führungskräften und Mitarbeitern, weil die Dinge klar und eindeutig geregelt sind.
Management-Disziplin ist leistungsfähiger als Patriarchats-Disziplin, weil sie von Personen und ihren Launen unabhängig ist, aber das diskutieren wir in einem anderen STANDPUNKT.
„Spielsysteme“ zu gestalten ist eine Kernaufgabe in der Mobilisierung, weil sie den Rahmen setzen für die Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter. Menschen wollen wissen, wofür sie sich engagieren sollen („Seele“) und wie sich die Organisation und sie selbst verhalten sollen, um dem gemeinsamen Ziel zu dienen („Spielsystem“). Wenn sie erkennen, dass sie Teil von etwas Besonderem sind („Sinnstiftung“), bringen sie sich ein.
Über ein leistungsfähiges Spielsystem sind außerordentliche Leistungen möglich, wenn wirklich alle an einem Strang ziehen. Dann erst weiß man auch, wer mitzieht und wer nicht in das Spielsystem passt. Probieren Sie es aus, sie werden überrascht sein, was möglich ist.
Ich wünsche Ihnen für 2013 allen erdenklichen Erfolg und genügend Zeit, um über die wichtigen Dinge nachzudenken. Hans-Dieter Krönung