#22 – Notwendige und hinreichende Bedingungen für Erfolg

„What can you do when your dreams come true and it`s not quite like you planned“

(Eagles)

Seit den Tagen Frederick Taylors zu Beginn des 20. Jahrhunderts träumen Manager von dem Prozess-gesteuerten Perpetuum mobile. Taylor hatte schließlich nachgewiesen, dass es irgendeinen Zusammenhang zwischen Prozess-Effizienz und Erfolg zu geben schien. Denn schließlich war Henry Ford dank seiner Hilfe zum erfolgreichsten Industriellen seiner Zeit und zur Legende geworden. Das Ford T-Modell war der Ausgangsunkt für eine Revolution im Management-Selbstverständnis, nicht nur in der Automobil-Industrie, sondern weit darüber hinaus.

Manager aller Generationen danach sind vor allem von zwei Dingen fasziniert:

  1. Der Beherrschbarkeit des Systems durch vollständige Verzahnung der menschlichen Arbeitsleistung mit dem Produktionsvorgang (Fließband) und
  2. Der Steuerbarkeit des Systems durch Beschleunigung oder Verlangsamung der Produktionsgeschwindigkeit.

Man war offenbar einen gewaltigen Schritt vorangekommen, denn endlich war es gelungen, den Unsicherheitsfaktor „Mensch“ in ein System einzubinden, und zwar so, dass es kein Entkommen gab. Man schmunzelte zwar über Charlie Chaplin, der sich in „Modern Times“ über die Implikationen auf die Arbeitswelt lustig zu machen schien, war aber „auf Kurs“, weil die neue Philosophie zeigte, wie man Produktionsprozesse und menschliche Arbeitskraft perfekt miteinander in Harmonie bringen konnte.

Hundert Jahre weiter müssen wir eine zumindest differenzierte Bilanz ziehen. Noch immer laufen die Rattenfänger durch die Lande und verkünden das Zielbild der „industriell ausgerichteten Organisation“, die Qualität und Effizienz über strikte Prozess-Steuerung und Aktivitäten-Controlling sicherstellt. Wenn es so einfach wäre!

Ohne Zweifel sind durch Prozess-Optimierungen substantielle Erfolge erzielt worden. Aber muss es uns nicht zu denken geben, dass es offensichtlich keine Korrelation zwischen der Qualität der Prozesse und dem nachhaltigen Unternehmenserfolg zu geben scheint. Jedenfalls fällt mir immer wieder auf, dass auch in wenig erfolgreichen Unternehmen beständig an den Prozessen gearbeitet wird. Mitunter hat man sogar den Eindruck, es gebe eine umgekehrte Korrelation.

Hinzu kommt, dass wir in einer Zeit leben, in der vor allem in der Finanz-Branche seitens der Aufsicht großer Wert auf funktionierende Prozesse gelegt wird, was uns zeigt, dass dort jetzt auch die Erkenntnisse Taylors angekommen sind und uns erwarten lässt, dass es weitere hundert Jahre dauern wird, bis sich dort  auch die Erkenntnis durchsetzen wird, dass Prozesse keine Qualität schaffen, sondern Menschen, die sich an Prozesse halten. Das ist ein wichtiger Unterschied.

Die Informationstechnologie lebt seit langer Zeit mit dem Problem, dass sie hohe Kosten verursacht, aber die Frage nicht beantworten kann, wie denn nun konkret der Nutzen einer technischen Investition zu kalkulieren sei, vor allem, wenn es sich um eine infrastrukturelle Maßnahme handelt. Kohorten von Beratern versuchen seit Jahren eine Lösung zu finden, eine Kosten-Nutzen-Kalkulation zu erstellen, um dem Management Entscheidungshilfen oder zumindest ein gutes Gefühl zu verschaffen. Nach meiner Erfahrung sind diese Kosten-Nutzen-Kalkulationen nur von geringem praktischem Wert, d.h. sie halten einer quantitativen Überprüfung oder gar einer methodischen Analyse kaum Stand.

Ähnlich verhält es sich mit groß angelegten Prozessoptimierung-Programmen für eine Organisation oder auch den Trainings-Programmen für Mitarbeiter. Haben Sie schon einmal eine dedizierte Kosten-Nutzen-Analyse eines Trainings-Programms durchgeführt?  

Glauben Sie wirklich noch daran, dass sie Menschen durch Schulung in ihrem Grundverhalten ändern können? Ich bestreite dabei nicht, dass man einzelne Menschen durch gezielte Behandlung verändern kann, wie es ja die Psychoanalyse zeigt. Aber ich kenne keinen Fall eines breit angelegten Kultur-, Qualitäts- oder Führungs-Programms, das nachhaltig und objektiv wahrnehmbare und überprüfbare Veränderungen in einer Organisation ausgelöst hätte. Selbst wenn dies in wenigen Ausnahmefällen passiert sein sollte, gehe ich davon aus, dass der betriebene Aufwand bei den weitaus meisten Programmen dieser Art in keinem sinnvollen Verhältnis zu dem erwarteten (!) Ergebnis steht, wenn man wirklich ehrlich mit sich selbst ist.

In den meisten Fällen ist es doch so, dass man bei Verabschiedung dieser Programme einfach ein gutes Gefühl hat, vergleichbar einer Spende an eine Kinderklinik. Das Geld ist weg, aber für einen guten Zweck.

Was aber bedeutet das für unser tägliches Management? Sollen wir Programme dieser Art nicht mehr durchführen? Können wir es uns leisten, die Qualität unserer Prozesse oder unserer IT zu vernachlässigen? Sollen wir künftig kein Augenmerk mehr auf die Ausbildung unserer Mitarbeiter legen?

Die Antwort liegt, wie so oft, im Fußball. Stellen Sie sich vor, Sie werden zum Altherren-Kick eingeladen und Ihnen passen die alten Fußballschuhe aus der Jugendzeit nicht mehr. Sie gehen los und kleiden sich ein, denn Sie wissen, beim Kampf um den Ball und mit nicht austrainierten, aber willensstarken Mitspielern droht Gefahr. Also empfiehlt es sich, Schienbein-Schoner und gute Schuhe zu kaufen. Außerdem werden Sie wahrscheinlich auch eine neue Sporthose brauchen und ggf. so etwas wie ein Trikot, denn eigentlich sollte man sonst nicht mitspielen. Die Schuhe sind auch deshalb eine Voraussetzung, weil Sie bei nicht adäquatem Schuhwerk vom Platzwart nicht auf den Platz gelassen werden (das kennen Sie ja auch vom Tennis).

Aber auch wenn Sie sich das neueste Schuh-Modell von Messi kaufen, werden Sie voraussichtlich nicht auch so spielen wie er. Und das ist die Lösung für unser gedankliches Problem, und mitunter auch eines unserer zentralen Management-Defizite.

In der Mathematik gibt es die Unterscheidung zwischen der notwendigen und der hinreichenden Bedingung für eine Optimierung. So verhält es sich auch im Management.

Ob wir überhaupt „mitspielen“ können, darüber entscheiden die Faktoren, die der notwendigen Bedingung zuzuordnen sind. Also müssen wir dafür sorgen, dass unsere Strukturen und Prozesse in Ordnung sind, dass wir eine vernünftige IT haben und dass unsere Mitarbeiter angemessen ausgebildet sind, denn sonst dürfen wir überhaupt nicht „mitspielen“.

Ob wir aber gut spielen, darüber entscheiden die hinreichenden Bedingungen, und die liegen im Bereich von Leidenschaft und Begeisterung, von Respekt und gemeinsamem Ziel-Verständnis.

Ein Beispiel: In 2011 wurde ein Siemens-Werk in Bayern zum erfolgreichsten deutschen Werk gewählt. Man stellt dort Gehäuse aus Kunststoff her, also etwas, dessen Herstellung man heute vorwiegend in China vermuten würde. Zitat: „Das Werk funktioniert wie ein gut geöltes Räderwerk, in dem jedes winzige Teil perfekt in das andere greift“. Da schlägt das Herz des Prozess-Optimierers höher, aber nur kurz. Denn, Zitat: „Doch das eigentliche Geheimnis des Erfolges liege woanders. Mitarbeiter aller Ebenen reichen Tausende Verbesserungsvorschläge ein“.

Warum tun die Mitarbeiter das? Weil sie sich mit ihrem Werk, mit ihrem Unternehmen „identifizieren“. Und genau deshalb kann ein Werk/eine Organisation außergewöhnliche Leistungen erbringen.

Viele von uns kennen Projekte zur Erhöhung der Netto-Verkaufszeit. Der Vertrieb klagt über zu hohe administrative Belastung, und so werden die Tätigkeiten isoliert, die in das Back Office verlagert werden können. Nach entsprechendem Beschluss erhofft man sich eine entsprechende Erhöhung der Vertriebsleistung, die aber ausbleibt.

Bei der Nach-Analyse stellt sich heraus, dass die abgeschafften Administrationstätigkeiten durch andere Administrationstätigkeiten ersetzt wurden, weshalb die Netto-Verkaufszeit eben nicht erhöht werden konnte. Ist das Problem über weitere Prozess-Optimierungen zu lösen?

Nein, denn wenn es nicht gelingt, die Mitarbeiter für mehr Vertrieb zu begeistern, können wir Prozesse optimieren, solange wir wollen, denn die Kreativität bei der Suche anderer Administrationstätigkeiten oder der verlangsamten Bearbeitung ist bei Mitarbeitern, die sich nicht vertrieblich engagieren wollen, ist unbegrenzt.

Die Unterscheidung zwischen der notwendigen und der hinreichenden Bedingung befreit uns aus einem Dilemma. Wir müssen uns zwar um die kontinuierliche Verbesserung der Faktoren der notwendigen Bedingung kümmern, aber wir dürfen nicht glauben, damit würden wir dem nachhaltigen Erfolg auch nur einen Schritt näher kommen.

Erst aus der erfolgreichen Addition der beiden Bedingungen entsteht Erfolg. Dazu müssen wir Grundlagen schaffen und verbessern, denn sonst können wir irgendwann nicht mehr „mitspielen“. Ob wir aber Spitzenklasse abliefern, hängt davon ab, ob es uns gelingt, die Mitarbeiter abzuholen, zu begeistern und sie zum Teil einer besonderen Sache zu machen, nämlich dem gemeinsamen Erfolg.

Der Traum vom Perpetuum mobile wird ein Traum bleiben, und selbst wenn man dem nahe käme, würde das Problem nicht gelöst sein, wie man die Bestandteile eines solchen Systems für seine Ziele begeistert. So ist das eben mit den Träumen.

Übrigens: Wie viel Zeit verwenden Sie denn auf die notwendige und wie viel auf die hinreichende Bedingung? Willkommen in der Mobilisierung.

Herzliche Grüße aus Brand

Hans-Dieter Krönung