#24 – Der „Gästetoiletten-Index“ – oder: Woran erkennt man Identifikation?

„Nichts schlägt so stark wie das Herz eines Freiwilligen“

(Dwight D. Eisenhower)

Montag Morgen, noch 20 Minuten bis zum Vorstandstermin in der Groß-Sparkasse.  Nach Autofahrt, Flug und Taxifahrt bin ich froh, ohne Stress und überpünktlich den Eingangsbereich zu betreten. Es ist noch Zeit, sich die Hände zu waschen und die Gedanken für das anstehende Gespräch zu ordnen.  Der erste Besuch in diesem Haus ist etwas Besonderes; entsprechend gespannt betrete ich den Empfangsbereich.

Der fremdartigen Uniform der Dame am Empfangstresen entnehme ich, dass es sich um die Mitarbeiterin eines Dienstleisters der Sparkasse handelt, die Dienstleistung am Empfang also ausgelagert worden ist. Ich nenne meinen Namen und den Namen meines Gesprächspartners, eines Vorstandsmitgliedes. Während die Dame im Telefonverzeichnis die Telefonnummer heraussucht, nutze ich die Gelegenheit, mich im Empfangsbereich umzuschauen. In der einen Ecke des Wartebereichs steht eine etwas abgewetzte Sitzgarnitur, neben der eine Topfpflanze  steht, die ihre besten Tage definitiv hinter sich hat.  Auf dem Beistelltisch liegen ungeordnet Tageszeitungen, so dass davon auszugehen ist, dass sie bereits das ganze Wochenende dort gelegen haben. Der „Höhepunkt“ aber ist ein Rollwagen, wie er in Hotels zum Transport von Schmutzwäsche benutzt wird, auf dem sich alte Kartons und anderer Restmüll stapeln, und der unbeachtet, aber prominent,  im Empfangsbereich herumsteht.

 Ich beschließe, nach der Gästetoilette zu fragen, weil mir bedeutet wurde, ich müsse noch etwas warten, ich sei ja schließlich auch viel zu früh. Mit dieser Frage ist die Dame am Empfang überfordert. Nach zwei Telefonaten kommt ein Herr, der einen Schlüssel hat, und führt mich eher unwirsch in den Keller, wo hinter einer vermeintlichen Heizungskeller-Tür eine Toilette mit einem Waschbecken schlummert.

Es gehört zu den zweifelhaften Privilegien eines Beraters, bei den vielen Besuchen in verschiedenen Instituten immer wieder auch einmal diese eher unbeachteten Bereiche des Unternehmens kennenlernen zu dürfen. Der hier geschilderte Fall gehört sicher zu den extremsten, denn dieser Raum vermittelte mit allen den Sinnen zugänglichen Signalen, dass man unwillkommen war. Ich erspare mir hier die Schilderung des Pflegezustandes, des Geruchs oder der erkennbar überzogenen Investitionszurückhaltung, aber ich war sehr froh, als ich wieder im Empfangsbereich angekommen war.

Ein anderes Beispiel: Besuch bei der mittelgroßen Sparkasse auf dem Land. Als ich aus der penibel sauberen Tiefgarage zum Empfangsbereich komme und meinen Namen nenne, werde ich strahlend begrüßt, weil man meinen Besuch avisiert hatte. Ich brauche auch nicht den Namen meines Gesprächspartners zu nennen, denn die Dame am Empfang hat ja ein Übersichtsblatt, welche Gäste welcher Vorstand heute empfangen wird. Während ich in den Wartebereich gebracht werde, schildert mir die Empfangsdame (!), welche Kampagne derzeit läuft und weist mich auf die entsprechende Dekoration der Hauptfiliale hin. Im Empfangsbereich angekommen, werden mir ein Kaffee und die aktuelle Tageszeitung angeboten. Natürlich bitte ich auch um den Hinweis auf die Gästetoilette, wo mich eine echte Überraschung erwartet.

Nicht nur ist die Gästetoilette pikobello sauber und riecht angenehm. Nein, auch steht neben jedem der beiden Waschbecken ein kleiner Strauß frischer Blumen! Noch erstaunter bin ich, als ich später während meines Gesprächs mit dem Vorstand erfahre, dass die Mitarbeiter der Hauptfiliale selbst für die Blumen Sorge tragen, d.h. es kümmert sich immer eine Kollegin bzw. ein Kollege darum, dass die Blumen immer wieder ausgetauscht werden. „Weil es ihnen (den Mitarbeitern) wichtig ist“, lautet die lapidare Erklärung des Vorstandes.

Im Jahre 2011 wurde ein Siemens-Werk im bayerischen Amberg zur „besten“ Fabrik gewählt. Diese Fabrik stellt Kunststoffgehäuse her, und das in Deutschland! Die Erklärung lautete, dass das Werk top-effizient sei, weil  alle Produktionsschritte ideal aufeinander abgestimmt sind. Man wäre also geneigt, dieses Werk als die perfekte Umsetzung des „Business Process Reengineering“ anzusehen. Doch, so weist der Werksleiter nach, liege das Geheimnis an einer anderen Stelle. Mitarbeiter aller Ebenen reichten Hunderte von Verbesserungsvorschlägen ein, welcher Prozess-Schritt weiter verbessert werden könne etc.  etc. So sorgen viele Köpfe dafür, dass gemeinsam immer wieder verbessert wird und ein Werk  weiterbesteht, das man in Deutschland so eigentlich nicht erwarten würde.  Aber warum tun die Mitarbeiter das? Weil es ihnen wichtig ist!

Nach vielen Jahren der Beobachtung bin ich mir sicher, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Engagement der Mitarbeiter und dem Unternehmenserfolg gibt. Präziser: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit des Managements, die Kreativität und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter für das Unternehmen nutzbar zu machen, und dem nachhaltigen Erfolg eines Unternehmens. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Gästetoilette und dem Geschäftserfolg!

Wenn die Mitarbeiter ihre Aufgabe als einen „Job“ verstehen, der mit möglichst geringem Aufwand zu erledigen ist, dann ist ihnen egal, ob die Gästetoilette einer Kloake ähnelt oder nicht. Sie machen nur ihren „Job“.

Wenn sich die Mitarbeiter aber mit dem Unternehmen identifizieren, wenn Ihnen das Unternehmen, für das sie arbeiten, am Herzen liegt, dann ist ihnen auch wichtig, wie es auf der Toilette aussieht, denn wenn sie abends Gäste empfangen, verhalten sie sich ja ebenso.

Vielleicht kommt jetzt ein besonders cleverer Leser zu dem Schluss, man müsse doch nur einen Prozess zur Bereitstellung frischer Blumen auf der Gästetoilette organisieren, dann wäre das Problem gelöst. Ich würde empfehlen, das einmal zu probieren, um zu sehen, ob und wie lange ein solcher Prozess greifen würde.

Menschen identifizieren sich mit dem, was ihnen wichtig ist. Für die eigene Familie, den Freundeskreis, den Sportverein oder die karitative Einrichtung empfinden Menschen Leidenschaft, weil es für sie etwas Besonderes darstellt, dazuzugehören. Sie empfinden Stolz, Teil  von etwas zu sein, was sie geschaffen, geprägt oder unterstützt haben.

Insofern kann Begeisterung nicht verordnet oder organisiert werden; kein Prozess der Welt schafft Begeisterung. Die Voraussetzung von Begeisterung aber ist Identifikation, und Identifikation kann entwickelt werden.

Die Gästetoilette ist gerade deshalb ein so geeigneter Prüfpunkt für die wahre Kultur eines Unternehmens, weil sie nicht im Fokus des Managements liegt. Aber warum eigentlich nicht? Wer seine Kunden willkommen heißen will, sollte doch auch für diesen Teil der menschlichen Begegnung gerüstet sein. Fragen Sie sich doch als Manager einmal selbst, ob Sie die Gästetoilette in der Hauptfiliale kennen.

Die Blumen auf der Gästetoilette sagen wahrscheinlich viel mehr über die innere Verfassung der Sparkasse aus, als die vielen Werbeplakate. Sie sind Ausdruck eines gewissen Perfektionsdenkens, das man dann auch für den dienstlichen Bereich annehmen darf. Es ist gelebtes Qualitätsmanagement. Es ist aber noch mehr, denn die Mitarbeiter kümmern sich gemeinsam  um die Blumen, d.h. es ist keine Individual-Initiative und damit singulär.

Es ist wie mit der Berufskleidung. In manchen Häusern ist sie als Obrigkeits-Instrument verpönt und auch daher meist nicht existent; in anderen Häusern trägt man die Berufskleidung mit Stolz als gelebte Identifikation. Vor allem dann, wenn es keine bestimmte Vorschrift gibt, wann und wie die Kleidung zu tragen ist, gibt sie ein gutes Abbild der Identifikations-Kultur.

Wir haben alle ein wenig verlernt, auf die kleinen Dinge zu achten. Wir sollten die Blumen auf der Gästetoilette als Synonym für das „Sich-kümmern“ des Managements um das Wohlbefinden der Mitarbeiter und dessen Resultat verstehen.

Es wird noch etwas dauern, bis ich den statistischen Nachweis des Zusammenhangs zwischen dem Betriebsergebnis und der Gästetoilette erbringen kann; ganz sicher aber ist der Zusammenhang zwischen Identifikation  der Mitarbeiter und der Leistungsfähigkeit eines Unternehmens. Identifikation alleine ist noch kein Garant für überdurchschnittlichen Erfolg, aber sicher ist auch: Ohne Identifikation sind überdurchschnittliche Leistungen unmöglich.

Gehen Sie und schauen Sie mal nach (auf der Gästetoilette).

Herzliche Grüße aus Brand

Hans-Dieter Krönung