„Alea iacta est – Der Würfel ist gefallen“
(Julius Cäsar)
Im Jahre 49 v. Chr. herrschte Bürgerkrieg im römischen Staat. Gaius Julius Cäsar, Befehlshaber über Gallien (nicht ganz Gallien, wie wir wissen) und Illyrien, führte Krieg gegen Gnaeus Pompeius Magnus. Anfang 49 v. Chr. hatte der römische Senat beschlossen, Cäsar müsse zunächst seine Armee entlassen, um wieder für das Konsulat kandidieren zu können. Daraufhin überschritt Cäsar mit seiner Armee den Grenzfluss Rubikon nördlich von Rom, womit klar war, dass eine kriegerische Auseinandersetzung mit seinen Widersachern unvermeidbar geworden war. Der Rest ist Geschichte.
Seitdem ist der kleine Grenzfluss Rubikon, dessen exakter Verlauf in der Antike bis heute ungeklärt ist, Synonym für eine unumkehrbare Entscheidung. „Ich habe den Rubikon überschritten“, steht für die Unumkehrbarkeit von Entscheidung und Tat, gleichbedeutend mit der anderen Metapher: „Ich habe die Brücken hinter mir abgebrochen“.
Man kann sich leicht vorstellen, dass sich Cäsar länger mit der Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, beschäftigt haben dürfte. Er wird seine Berater konsultiert haben, mit befreundeten Politikern aus dem Senat gesprochen und seine Chancen abgewogen haben. Und höchstwahrscheinlich war es so, dass es unterschiedliche Meinungen gab, ob man den Konflikt militärisch austragen sollte oder nicht. Dabei wird es stichhaltige Argumente für beide Alternativen gegeben haben, denn selten sind Entscheidungen dieser Tragweite digital klar.
Die Biographen Cäsars beziehen zu diesem Punkt keine klare Position. Es ist nicht abschließend geklärt, welcher Ratgeber welchen Ratschlag gegeben hat. Cäsar war auch in der Verantwortung, die Entscheidung letztendlich selbst zu treffen, denn es ging ja buchstäblich auch vor allem um seinen Kopf. Es war eine Entscheidung auf Leben und Tod, es ging um Ruhm oder Untergang.
Die Geschichte ist fasziniert von dieser Episode, vor allem, weil sie für Cäsar gut ausging. Hätte er den Rubikon überschritten und wäre gescheitert, kaum jemand würde seinen Namen kennen und Asterix und Obelix hätten einen anderen prominenten Widersacher bekommen. So wurde der kleine Grenzfluss Rubikon zu einer Metapher für die ultimative Entscheidung, die Konsequenz im Handeln schlechthin. „Den Rubikon zu überschreiten“ ist seither gleichbedeutend mit dem Treffen einer schwierigen Entscheidung nach einer komplexen Abwägung schwieriger Fragestellungen mit unterschiedlichen Empfehlungen, vor allem aber auch mit der konsequenten Umsetzung der getroffenen Entscheidung.
Genau darin liegen auch der Reiz und die Bedeutung dieser Metapher für das moderne Management. Wir leben in einer Welt komplexer Wirkungszusammenhänge von objektiv z.T. gegensätzlichen Impulsen. So sollen wir aufsichtsrechtliche Auflagen erfüllen und gleichzeitig das unternehmerische Denken unserer Mitarbeiter weiterentwickeln und stärken. Wir sollen bodenständig und menschlich agieren, aber den technischen Fortschritt nicht verpassen. Wir sollen mit standardisierten Prozessen und Produkten individuelle und wertstiftende Beratung für jeden Kunden sicherstellen. Wir sollen das Marktpotenzial besser ausschöpfen, aber ohne den Druck für die Berater zu erhöhen. Man könnte die Liste noch lange weiterführen.
Der kanadische Management-Guru Henry Mintzberg schrieb einmal, nachdem er 29 Top-Manager über Wochen in ihrem Führungsverhalten genau beobachtet hatte: „Ein Arbeitsalltag voller Hektik und Druck. Vor allem wird die ganze Zeit reagiert. Ständig müssen die Manager Sachen erledigen, die auf sie zukommen. Und wenn sie selbst etwas bestimmen wollten, konnten sie höchstens das, was sie sowieso erledigen mussten, nach ihren Prioritäten ordnen.“
Das klingt nach „Hans Dampf in allen Gassen“, aber auch nach Opfer. Man würde ja gerne anders, aber man kann ja nicht. Unzweifelhaft stimmt Mintzbergs Analyse mit dem Empfinden der meisten Manager überein, die sich darüber beklagen, zunehmend fremdgesteuert zu sein, insbesondere auch in der Finanzindustrie. Top-Manager von DAX-Unternehmen kennen das Phänomen ja schon länger.
Daher erscheint schlüssig, dass man zunehmend Verhaltensmuster erkennen kann, die sich primär daran orientieren, alle Anforderungen bedienen zu wollen. Ich erinnere mich an das Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden einer großen Bank, mit dem ich vor einigen Jahren über die meiner Meinung nach zu geringe Identifikationskraft der Unternehmensstrategie sprach. Er bestätigte dieses Defizit, sagte aber sinngemäß: „Ich habe so viele operative Probleme zu lösen, die erst gelöst werden müssen, bevor ich mich der Identitätsstiftung zuwenden kann.“ Ich habe nicht den Eindruck, dass sich an der Situation der operativen Probleme dieser Bank bis heute wirklich etwas getan hat.
Dieses Beispiel steht sinnbildlich für das Dilemma der operativen Hektik und der fehlenden Richtung. Sehr viele Manager haben aus der Not eine (falsche) Tugend gemacht, indem sie nur noch „Löcher stopfen“. Es werden Kostensenkungs-Programme gestartet, weil es in diesen Zeiten unzweifelhaft besser ist, geringere Kostenblöcke mit sich herumzuschleppen. Gleichzeitig werden Motivations-Programme durchgeführt, um die Mitarbeiter zu mehr Leistung anzuspornen. Begleitend empfiehlt sich ein Kultur-Projekt, damit auch dieses Thema nicht brachliegt. Man gründet Abteilungen für medialen Vertrieb, weil damit verdeutlicht wird, dass man sich der technischen Revolution stellt. Die Personalentwicklung
weist mit Recht auf die Notwendigkeit entsprechender Fach- und Führungs-Trainings hin, für die man dann auch Budgets locker macht etc.
„Als sie die Orientierung verloren, verdoppelten sie die Geschwindigkeit“, lautet ein böser Spruch zu diesem Verhaltensmuster. Aber er ist wahr. Ohne Orientierung werden die operativen Probleme nie gelöst, vor allem, weil ja immer wieder neue Probleme entstehen. Wer immer nur Löcher stopft, kann nicht vorankommen.
Das Kernproblem liegt meiner Meinung nach darin, dass sich zu wenige Manager trauen, den Rubikon zu überschreiten, d.h. sich und ihrem Unternehmen eine Richtung zu geben, die dann auch konsequent gegangen wird. Das ist nicht einfach, weil es immer gute Gründe gibt, sich noch die ein oder andere Tür offen zu halten. Wenn man auf jede Anforderung reagiert, jede mögliche Wendung absichern und für jeden Fall gerüstet sein will, ist die Gefahr groß, nichts zu erreichen, weil man nur versucht, keinen Fehler zu machen. Hätte Cäsar versucht, allen Meinungen und Empfehlungen Rechnung zu tragen und jeden Eventualfall abzusichern, würde er heute noch an den Ufern des Rubikon sitzen und die Geschichte wäre über ihn hinweg gegangen.
Es ist die hohe Management-Kunst, aus den vielen und immer komplexer werdenden Parametern, die Management-Entscheidungen nun einmal mit sich bringen, die richtigen Schlussfolgerungen abzuleiten und dann konsequent auch danach zu handeln. Wer aufbricht, um sich weiterzuentwickeln, geht ein Risiko ein, das ist unvermeidlich. Es ist eben niemals sicher, dass eine Veränderung auch zu einer Verbesserung führt. Aber es ist gewiss, dass eine Verbesserung nicht ohne Veränderung eintreten kann. Das klingt nach Binsenweisheit, ist deswegen aber nicht falsch.
Angst ist dabei nicht nur erlaubt, sondern wichtig, darf aber das Handeln nicht verhindern. Man darf annehmen, dass auch Cäsar Angst empfunden hat, nachdem er den Rubikon überschritten hatte. Man kann als Regionalbanker Angst davor haben, dass irgendwann alle Kunden nur noch über Internet den Weg zur Bank suchen und Filialen überflüssig werden. Man kann Angst davor haben, dass die Zinslandschaft auf Dauer die Rückkehr zu den „alten Zeiten“ verhindert und die Aufsichtsbehörden die Daumenschrauben bei denen, die die Krise nicht verursacht haben, sondern sie ausbaden müssen, noch weiter anziehen werden, weil sie der wahren Triebtäter nicht Herr werden. Alle diese Ängste sind nachvollziehbar.
Man kann aber auch den Mut haben, die eigene Organisation daran zu erinnern, dass am Ende des Tages entscheidend ist, ob man mit möglichst vielen Kunden einen so intensiven Kontakt hat, dass man die Bedürfnisse des Kunden kennt, bevor er sich im Internet schlau macht. Man kann auch klar machen, dass die technischen Veränderungen vor allem den Kundenservice, nicht aber die Beratung beeinflussen werden, dass also eine Filiale, die ihre Rolle nicht im Service, sondern im Aufbau und der Pflege von Kundenkontakten sieht, sehr
wohl auch dauerhaft eine Existenzberechtigung haben wird. Man kann eine Organisation konsequent auf Kundenkontakt-Frequenz ausrichten und alles daran setzen, faktische Marktanteile zu erhöhen und somit das Kundenpotenzial besser ausschöpfen. Man kann ein klares Konzept zur wettbewerblichen Differenzierung erarbeiten, das man dann auch konsequent umsetzt und vorlebt. Man kann dem Haus eine Identität vermitteln, indem man den Sinn des eigenen Tuns nicht nur auf die GuV, sondern auf den Nutzen für das Gemeinwesen, in dem man arbeitet, bezieht und den Mitarbeitern den Stolz vermittelt, den eine solche Aufgabe mit sich bringt. Ob man damit dauerhaft alle Probleme gelöst bekommt, ist nicht wahrscheinlich. Es ist aber sicher, wenn man sich nicht mit aller Kraft gegen die schwierigen Zeiten stemmt, ist man fehl am Platz.
Das alles erfordert Mut, die richtigen Dinge zu tun, vor allem aber, andere Dinge nicht mehr zu tun. Der wunderbare Effekt einer einmal eingeschlagenen Richtung ist, dass sich beim Tun viele Vorbehalte, die man vorher hatte, auflösen. Für die meisten Dinge, die im Trocken-Dock noch als mögliche Probleme diskutiert wurden, findet sich schnell eine Lösung, wenn das Boot einmal zu Wasser gelassen worden ist. Lichtenberg schrieb dazu einmal: „Nicht, weil die Dinge schwierig sind, wagen wir sie nicht, sondern weil wir sie nicht wagen, werden sie schwierig.“
In der Weihnachtszeit werden ja bekanntlich viele gute Vorsätze gefasst. Meist beziehen sie sich auf die Gesundheit und die bessere Allokation des knappen Faktors Zeit.
Ich möchte sie ermutigen, über Ihren eigenen Rubikon nachzudenken. Wenn sie das Gefühl haben, schon lange im Lager zu sitzen und die Zeit damit zu verschwenden, sich um alle operativen Probleme zu kümmern anstatt aufzubrechen und zu „kämpfen“, dann ist jetzt ein guter Zeitpunkt, den eigenen Rubikon zu begutachten sowie die neuen Ziele und nächsten Schritte zu definieren.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Lieben eine schöne Vorweihnachtszeit, ein frohes Fest und ein gesundes und erfolgreiches neues Jahr. Bleiben Sie uns gewogen; wir freuen uns auf die Fortsetzung unseres Dialogs. Hans-Dieter Krönung