#28 – Placebo – Die Wirkung von Alibi Management

„Und der Frosch sprach: Küß mich, ich bin ein verwunschener Königssohn. Doch die Königstochter warf den garstigen Frosch wütend gegen die Wand.“

(Der Froschkönig, abgewandelte Form)

Wenn es sich so zugetragen hätte, wäre aus dem Froschkönig nie das berühmte Märchen geworden, das die Gebrüder Grimm seit ca. 200 Jahren in die Kinderstuben tragen. Abgesehen davon, dass ein sprechender Frosch alleine schon ein Märchen darstellt, wäre der Wurf gegen die Wand wahrscheinlich das Ende des Frosch-„Königs“ gewesen. Und man mag gar nicht daran denken, wie viele Frösche in den vergangenen Jahrhunderten nach einem Kuss enttäuscht gegen eine Wand geworfen wurden und dabei ihr Leben aushauchten.

Märchen faszinieren ja vor allem deshalb, weil man sich so herrlich aus der Realität verabschieden kann. Im Märchen, wie Pia Mayer-Kampe in ihrem Buch „Das goldene Ei“ so treffend beschreibt, dominieren Symbole, die Guten sind schön und die Bösen nicht, es gibt den Teufel und den dunklen Wald und die Welt ist mehr oder weniger einfach strukturiert.

Auch im Märchen werden Fehler bestraft. Schneewittchen nimmt den vergifteten Apfel und stirbt. Aber da wir uns im Märchen befinden, kann selbst dieser Fehler korrigiert werden, weil sich ein verirrter Königssohn durch das Dornengestrüpp zu ihrem gläsernen Sarg vorkämpft und sie durch den obligatorischen Kuss wieder zum Leben erweckt.

Wäre das nicht schön, wenn sich alle Fehler so leicht korrigieren ließen? Vielleicht erklärt dies auch die Faszination von Märchen. Man kann riskieren, kämpfen, und wenn es schief geht, geschieht ein Wunder und man ist wieder bei „Los“.

In der Realität verhält es sich leider anders. Entscheidungsträger sind risikoscheu und Fehler können oft nicht korrigiert werden. Seit Bernoulli die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung geschaffen hat, wissen wir zudem, dass man Risiken wenigstens zum Teil vorhersagen und sich durch präventive Maßnahmen abzusichern versuchen kann. „Portfolio“-Steuerung nennt man diese Form des Umgangs mit Risiko, und auch wenn sich diese Form der Risikosteuerung prinzipiell nur auf Fragen der Finanzwirtschaft, also den Umgang mit Anlageoptionen oder Risikostrukturen konzentriert, hat sie doch auch das Denken im Management sehr stark beeinflusst. Was bedeutet das?

Das methodische Grundproblem im Management besteht ja darin, dass man sehr viele Stellschrauben hat, die zum einen nicht immer klar erkennbar und mitunter auch nicht einfach zu bewegen sind, und dass zum anderen die Rahmenbedingungen des Handelns dynamisch und risikobehaftet sind. Was liegt da näher als die Anwendung des Portfolio-Denkens?

Viele Manager sind daher dazu übergegangen, einen Management-Baukasten vor sich herzutragen, in dem sich alle aus Sicht des Managers relevanten Elemente des Management-Portfolios befinden. Da finden sich Steuerungselemente wie Planungs- und Zielvereinbarungssysteme, Kommunikations-Konzepte, Incentivierungs- und Entlohnungs-Regeln, Trainings- und Coaching-Maßnahmen sowie diverse Marketing-Bausteine. Alle diese Dinge sich richtig und wichtig und, noch wichtiger, jedes Element verkörpert bei einer bestimmten Ausprägung auch eine bestimmte Management-Philosophie.

Ein Beispiel: Der Chef einer Regionalbank trägt in sich die Überzeugung, eine Organisation müsse durch klare Ziele und ein straffes Controlling gesteuert werden. Also setzt er entsprechende Kapazitäten dafür ein, ein detailliertes Zielvereinbarungssystem zu entwickeln und umzusetzen. Er informiert die Belegschaft und macht deutlich, dass er die Umsetzung dieses Systems und die Erfüllung der vereinbarten Ziele erwarte.

Auf einem Kongress trifft er einen erfolgreichen Kollegen, der ihm begeistert von seinem Werte-basierten Coaching-Konzept erzählt, dass seit einigen Jahren in seinem Haus im Einsatz ist und das der Kollege für seinen zentralen Erfolgsfaktor hält. Auf der Rückfahrt von dem Kongress grübelt der Manager über das Gehörte nach. Auch wenn es seiner Philosophie nicht entspricht, könnte ja an dem Gehörten etwas Sinnvolles und Nutzenstiftendes dran sein. Also wird in den kommenden Monaten ein Werte-basiertes Führungskräfte-Coaching eingeführt, vergleichbar dem Einsatz bei dem erfolgreichen Kollegen.

Die Mitarbeiter und Führungskräfte reagieren verunsichert bis verstört, denn das Werte-basierte Konzept steht zumindest in scheinbarem Widerspruch zu der eher mechanistischen Steuerungskultur, die man gewohnt war. Und als sich nach ein bis zwei Jahren die erhofften Erfolge nicht einstellen, beruhigt der Chef seine Kollegen mit der Bemerkung, es habe aber wenigstens nicht geschadet.

Man könnte und müsste eigentlich dieses sehr einfache Beispiel noch viel weiter ausbreiten, denn faktisch beobachte ich sehr häufig dieses Phänomen des Portfolio-Denkens. Es werden Einzelziele mit den Mitarbeitern vereinbart, aber weil man das Gefühl hat, dass Teambildung auch wichtig sei, werden parallel auch Teamziele formuliert. Und wenn man bislang rein quantitative Ziele vorgegeben hat, ergänzt man diese um qualitative Ziele, weil das nicht schaden kann und auch noch gut nach außen verkauft werden kann. Dann lässt man von der Personalabteilung noch ein Führungskonzept erarbeiten, in dem man festschreibt, dass man die Mitarbeiter fördert und fordert und auch offen kommuniziert und nimmt an fragwürdigen Wettbewerben teil, die einem attestieren, dass man zu den beliebtesten Arbeitgebern in der Region zählt usw. usw.

Wir stehen hier staunend vor einem sehr realistischen Fall von Alibi-Management. Es ist nicht so, dass es grundsätzlich falsch ist, einem Werte-basierten Führungsansatz zu folgen; ganz im Gegenteil. Es ist aber ein großer Unterschied, ob das Top-Management diesen

Ansatz selbst verkörpert oder ihn als elegante Verpackung einer an sich mechanistischen Führungs-Philosophie nutzt. Im letzteren Fall verkommt ein an sich wertvoller Ansatz zu einem Alibi, das man einsetzt, weil „es nicht schadet“ bzw. einem Eindruck entgegenwirken soll, den man nicht haben möchte. Man muss nicht erst die Deutsche Bank als Beispiel bemühen, einen Kulturwandel vorzutäuschen, sondern kann sehr wohl vor der eigenen Haustür kehren. Die durch Filialbesuche vorgegebene Wertschätzung der Filialmitarbeiter, denen man aber eigentlich misstraut, ist ebenso Ausdruck von Alibi-Management wie das Kultur-Projekt, dessen Sinn sich niemandem erschließt, das man aber weiterlaufen lässt, weil es einen guten Eindruck macht und sich gut verkaufen lässt. Wir werden in den kommenden Jahren noch mehr Themen dieser Art haben wie Frauenförderung, Nachhaltigkeit, Kundenorientierung und soziales Engagement, die alle großes Potenzial für Alibi-Management haben.

Das Beschämende daran ist aber vor allem, dass es sich in den allermeisten Fällen nicht auszahlt, Alibi-Management zu betreiben. Die meisten Mitarbeiter haben nämlich ein sehr gutes Gefühl dafür, was sich hinter der Fassade wirklich verbirgt. Und dann folgen sie den Verlockungen auch nicht.

Der Grund für den in unserem Beispiel erfolgreichen Kollegen mit dem Werte-basierten Coaching-Konzept liegt doch nicht in dem Konzept selbst, sondern darin, dass die Führungsmannschaft einer solchen Philosophie auch authentisch und diszipliniert folgt. Ohne diese Authentizität kann kein Konzept erfolgreich umgesetzt werden. Wer ein „Management-Portfolio“ betreibt, ohne diesem Portfolio eine Philosophie zugrunde zu legen, diversifiziert ohne Plan und wird daher auch nicht erfolgreich sein.

Wer seinen Mitarbeitern misstraut, sollte eine „Galeeren“-Kultur schaffen und dazu stehen. Man braucht dafür, sinnbildlich formuliert, einen guten Schmied, einen Trommler und jemanden, der die Peitsche schwingt. Man wird damit zwar nie eine Regatta gewinnen, aber jeder weiß, woran er ist. Wer aber vorgibt, humanistischen Führungsidealen zu folgen und damit die Galeere zu verbergen versucht, wird Schiffbruch erleiden, denn Alibi-Management wird schnell enttarnt. Es wird natürlich immer wieder auch Menschen in einer Organisation geben, die diesen Alibi-Effekten erliegen, im Sinne eines Placebo-Effektes. Wenn aber das Management darauf hofft, dass dieser Effekt eine ganze Organisation infiziert, täuscht es sich. Alibi-Management wendet sich gegen den, der es anwendet.

Genauso wie der gute Anlageberater einem Portfolio eine erkennbare Strategie gibt, die dem Risikoprofil des Anlegers entspricht, braucht auch das Management-Portfolio eine Philosophie, die authentisch ist. Das bedeutet nicht, dass man nur ausgewählte Bausteine verwendet, sondern durchaus die Nutzung verschiedener Management-Instrumente, die aber in einer stringenten Logik und Disziplin priorisiert und kommuniziert werden müssen. Was nicht in die Philosophie passt, wird auch nicht eingesetzt. Was eingesetzt wird, ist auf

die Philosophie auszurichten und entsprechend umgesetzt. Und wer nicht authentisch hinter der Philosophie steht, kann dauerhaft nicht Teil der Führungsmannschaft sein. In diesem Rahmen ist für Alibi-Management kein Platz.

Im Märchen geschehen Wunder. Der Prinz kämpft sich durch die Dornen und küsst seine Prinzessin wach. Auch in der Realität geschehen „Wunder“, wenn bspw. Menschen sich plötzlich engagieren, die über Jahre eher unauffällig waren, wenn Mitarbeiter kreativ werden, obwohl man sie dazu nicht explizit aufgefordert hat oder einen entsprechenden Prozess geschaffen hatte. Diese „Wunder“ kann man schaffen, wenn man klar und authentisch das Management-Portfolio ausrichtet und somit Begeisterung für die gemeinsame Sache entstehen lässt. Wer glaubt, mit Alibi-Management die gemeinsame Sache nur vortäuschen zu können, wird eine ähnliche Erfahrung machen wie die vielen Frösche, die geküsst werden wollten und an der Wand landeten.

Das kann man sich doch ersparen, oder?

Ich wünsche Ihnen einen klaren Blick für das Wesentliche. Bleiben Sie authentisch.

Herzliche Grüße aus Brand

Hans-Dieter Krönung