#29 – „The Digital Journey“ – oder: Der Gesang der Sirenen

„Die, welche Gott verderben will, verblendet er vorher.“

(Sophokles)

Jederzeit online – das gilt für viele Lebensbereiche, und damit auch für das Bankgeschäft. In den vergangenen 10 Jahren stieg die Zahl der Bankkunden in Deutschland, die ihre Bankgeschäfte selbst am Computer oder mit dem Handy erledigen, von vier auf mehr als 14 Millionen an. Bei einigen Online-Instituten können Kunden ihre Bankgeschäfte über die Facebook-Seite der Bank erledigen oder profitieren von höheren Sparzinsen, je mehr Nutzer den „Gefällt mir“-Button anklicken.

Parallel dazu sinkt die Anzahl der Filialen kontinuierlich; das Ende des Service-orientierten Bankgeschäfts von Mensch zu Mensch scheint absehbar. Und konsequent wird nun in vielen Finanzinstituten der Rotstift angesetzt. Manch eine Bank versucht sogar, ihr Scheitern im Markt als logische Weiterentwicklung des Retailgeschäfts zu verkaufen, indem sie Skype-basierte Beratung anbietet und daneben die Hälfte ihrer Filialen schließt.

Vergleichbar dem „Homo oeconomicus“, den manche von uns noch aus dem Wirtschaftsstudium als dankbaren Idioten für die Anwendung mathematisch-linearer Optimierungsmodelle kennen, geistert jetzt der „Homo digitalicus“ durch die Finanzbranche, der auf seiner „Digital Journey“ durch das „Multi-Channel-Banking“ alles niederreißt, was traditionell auf zwischenmenschlichem Kontakt aufbaut. Wir sehen „Magic Max“, der über sein Online-Portal den „besten“ (!!), weil günstigsten Kredit gefunden hat und jetzt ein glücklicherer Mensch ist.

Wir sehen die Vertreter der „künftigen“ Generation, wie sie sich gegenübersitzen und mit ihren Smartphones, anstatt miteinander kommunizieren. Wir lernen, dass Facebook „überaltert“ ist, weil das Durchschnittsalter der Teilnehmer, sorry: „Friends“, schon „über 30“ liegt. Was sollen diese Menschen in einer Bankfiliale? Was sollen diese Menschen mit einem Bankberater aus Fleisch und Blut, wo es doch ein Avatar einer Großbank auch täte?

Andererseits sieht man seit einigen Monaten wieder deutlich mehr Ältere, vorwiegend Männer, morgens durch Frankfurt joggen, in der Hoffnung, die nette Blondine aus der Commerzbank-Werbung zu treffen (wie ich vernommen habe, arbeitet sie allerdings in Hamburg). Und das Handelsblatt hat kürzlich eine Studie veröffentlicht, nach der junge Menschen vor allem Bausparen und Tages- bzw. Termingelder nachfragen; konservativer geht es nicht mehr. Und als wäre das nicht genug der Verunsicherung, erzählte mir der Vorstand einer Regionalbank von einer seiner erfolgreichsten Filialen, die sich auf dem Gelände eines Software-Konzerns befindet.

Was also will eigentlich der „Homo digitalicus“? Auf jeden Fall, so sagen es uns die Fachleute, die, nebenbei bemerkt, vor allem daran verdienen, technische Lösungen für Multikanal-Banking zu entwickeln oder entsprechende Beratungsdienstleistungen anzubieten, will er alles anders. Er will rund um die Uhr über alle Kanäle seine Orders abgeben, eine Baufinanzierung tätigen, seine Kontodispositionen ausführen oder Altersvorsorge-Konzepte vergleichen. Vor allem aber will er weder für seine Kontoführung noch für eine Beratungsleistung seiner Bank etwas bezahlen, während er rund um die Uhr die günstigsten Anlage- oder Finanzierungsangebote auswählt.

Und schon sind die Lemminge auf der Überholspur. Es gehört zum guten Ton, ein eigenes Multikanal-Projekt bzw. –Konzept zu haben, eine eigene Organisationseinheit, die sich in den neuen Medien tummelt, und auch ein kostenloses Girokonto; man geht schließlich mit der Zeit. Und die ganz Mutigen erkennen die Effizienzpotenziale, die in der Schließung der teuren Filialstrukturen liegen.      

Und so sitzt man inmitten der Prediger und Hellseher, lauscht denen, die ein Facebook-Account haben und sich als Experten für die digitale Revolution sehen, und fragt sich, was eigentlich aus dem „Homo oeconomicus“ geworden ist. Dessen Auseinandersetzung mit der Realität ist seinem Ansehen auch nicht besonders gut bekommen. Als man nämlich begann, die auf ihm und seinem angenommenen Entscheidungsverhalten basierenden ökonomischen Theorien in die Praxis zu übersetzen, also zur Anwendung zu bringen, stellte sich ziemlich schnell heraus, dass die reale Welt deutlich anders funktionierte. Heute kann man mit dem Modell des „Homo oeconomicus“ keinen Blumentopf mehr gewinnen.

Der Publizist Schirrmacher hat in seinem Buch „Ego“ einen ähnlichen Fall geschildert. Als die im Kalten Krieg geschulten Militärberater ihre auf der Spieltheorie basierenden Verhandlungsstrategien, nach denen man gut beraten ist, nur an sich selbst zu denken, bei ihren Sekretärinnen testeten, waren sie sehr überrascht, dass sich die Damen durchweg anders, nämlich wesentlich sozialer, verhielten, als das nach der Theorie zu erwarten gewesen wäre.

Es ist natürlich ungemein praktisch, weil einfach, sich einen „Homo digitalicus“ auszudenken, ihm gewisse plausible Verhaltensmuster zu verleihen, um dann daraus weitreichende strategische Entscheidungen abzuleiten. Das ist wesentlich weniger aufwändig als die meisten Kunden zu befragen bzw. noch besser, mit ihnen regelmäßig in Kontakt zu sein, denn wir wissen ja auch seit langem, dass eine Befragung immer das ergibt, was man hören möchte. Auch ich würde auf die Frage, ob ich mir denn vorstellen könnte, eines Tages meine Bankverbindung zu wechseln, mit „Ja“ antworten, aber auf die Frage, ob ich es konkret vorhabe, mit „Nein“. Bei geschickter Auswertung würde ich damit im einen Fall zu denjenigen gehören, die demnächst mit hoher Wahrscheinlichkeit wechseln, im anderen Fall zu den treuen Kunden.

Unzweifelhaft gehört Online-Banking heute zu den notwendigen Bedingungen für den Geschäftserfolg einer Bank. Wer das nicht anbieten kann, darf perspektivisch nicht mehr mitspielen. Wenn man aber alle seine Energien (und Hoffnungen) in die „Digitale Welt“ investiert, wird man dann erfolgreich sein? Wohl kaum, wenn das alles ist, was man den Kunden zu bieten hat, vor allem, weil man nicht der Einzige ist, der diese Lösungen anbietet.

Es ist ein ebenfalls weitverbreiteter Irrtum, zu glauben, man könne sich über technische Lösungen einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil sichern. Eine tolle „App“, die wirklich einen Mehrwert bringt, ist innerhalb weniger Tage oder Wochen zu kopieren. Man kann auch glauben, einen technologischen Wettbewerb gewinnen zu können, in dem man immer die besten und innovativsten Lösungen anbieten will. Die Telekom-Industrie zeigt allerdings, dass das ziemlich teuer und riskant sein kann, eine solche Strategie zu verfolgen.

Ich muss gestehen, dass mich die Aufregung über die „Digitale Revolution“ im Bankgeschäft nicht erfasst hat. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass ich einfach schon zu alt bin, wie ein deutlich jüngeres Mitglied eines Vorstands kürzlich mutmaßte, es kann aber auch daran liegen, dass man mit der gewachsenen Erfahrung vieler „Revolutionen“ auch lernt, die heiße Luft von der Substanz zu trennen. Ich frage mich angesichts der vielfach ausgebrochenen Hysterie manchmal, ob McDonalds auch das Burgerbraten aufgeben würde, wenn die Kunden nicht mehr mit dem Auto, sondern mit dem Fahrrad kämmen. Ich glaube, McDonalds würde sofort reagieren – und Fahrradständer auf den Parkplätzen installieren.

Die Zugangswege für Banking sind vielfältiger geworden, aber der Kern des Geschäftes  hat sich für die meisten Retailbanken nicht verändert. Die technische Ausstattung, zu der das Multi-Channel-Banking gehört, ist Bestandteil der notwendigen Bedingung für Geschäftserfolg; die Intensität und Qualität der Kundenbetreuung ist und bleibt dagegen die hinreichende Bedingung. Und die Bank, die schon bislang keine gute Leistung an der Markt-Schnittstelle gezeigt und sich nicht um die Erhöhung der Kundenkontakt-Frequenz gekümmert hat, wird auch im digitalen Zeitalter nicht erfolgreich sein, auch wenn sie die besten technischen Lösungen anbietet.

So wie der Versand-Buchhandel auch nicht dafür gesorgt hat, dass der Fachhandel eingegangen ist, weil sich dieser angepasst hat, wird auch das Retailbanking mit persönlichem Kontakt zum Kunden nicht untergehen, wenn man sich den Veränderungen anpasst. Es ist eben angesichts rückläufiger Nutzungsintensität der Filialen schon lange nicht mehr ausreichend, nichts zu verändern und erst zuzusperren, wenn nichts mehr geht, sondern zu lernen, dass man sich um den Kundenkontakt kümmern, aktiv auf die Kunden zugehen und Top-Leistung abliefern muss, wie das überall sonst auch längst üblich ist, wenn man erfolgreich sein will. Viele Retailbanken machen es trotz schwieriger Rahmenbedingungen täglich vor.

Wir können also auch versuchen, dem „Homo digitalicus“ auf seiner „Digital Journey“ durch das Orbit zu folgen und seinen Kurs zu bestimmen, oder wir können einfach mit unseren Kunden sprechen, Vertrauen durch Kompetenz und Engagement aufbauen und ihm helfen, den Kontakt zu seiner Bank möglichst einfach und lohnend zu machen. Captain Kirk ist ja auch schließlich immer gerne wieder nach Hause gekommen.

Verlieren Sie also bitte bei allen Aufgeregtheiten, Mahnungen und Ratschlägen nie den klaren Blick für das Wesentliche. Ich kenne keine nachhaltig überdurchschnittliche Retailbank, die so erfolgreich ist, weil sie die besten Apps oder die besten Geldausgabe-Automaten hat. Nicht einmal die Qualität der Webseiten korreliert mit dem Betriebsergebnis. Das sollte doch Hoffnung machen, dass man den Zug der Zeit so schnell auch nicht verpassen kann.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit einem unverkrampften Umgang mit den Segnungen der Technik und sende Ihnen herzliche Grüße aus Brand.

Hans-Dieter Krönung