#30 – Mensch und Zahl – oder: Warum Messen, Zählen und Wiegen nicht zu zielgerichtetem Verhalten führt

„Vom Wiegen wird das Schwein nicht fett“

(Bauernregel)

Ich kenne keine Retailbank, die sich derzeit nicht mit ihren Zielvereinbarungssystemen kritisch auseinandersetzt. Das hat mehrere Gründe.

Zum einen ist die Stimmungslage gegenüber Banken im Allgemeinen und damit auch gegenüber Sparkassen und Volks- bzw. Raiffeisenbanken derzeit nicht ungetrübt. Verbraucherschützer und eifrige Journalisten brandmarken das Vertriebsverhalten „der Banken“, und sprechen damit vor allem Exzesse von Produktvertrieb an, von geschlossenen Immobilienfonds bis australischen Goldminen-Beteiligungen. Und da es solche und ähnliche Fälle in allen Bankengruppen gegeben hat, lassen sich diese Argumente leicht immer wieder anführen.

Zum anderen hat sich aber auch gezeigt, dass die ausgefeilten Zielvereinbarungssysteme, die in fast allen Banken entwickelt bzw. eingesetzt wurden, keinen durchschlagenden und nachhaltigen  positiven Erfolg gebracht haben. Man kann natürlich argumentieren, dass man nicht weiß, ob es ohne diese Systeme nicht schlechter gelaufen wäre, aber es scheint sich doch mehr und mehr die Erkenntnis durchzusetzen, dass detaillierte Zielsysteme, am besten auf den einzelnen Vertriebsmitarbeiter herunter gebrochen und mit einem engmaschigen Kontrollsystem unterlegt, kein sicherer Erfolgsgarant sind.

Daher sind zurzeit viele Bankvorstände dabei, über die Zielsysteme nachzudenken. Ist es besser, Team- statt Einzelziele zu vereinbaren? Soll man nur noch zwei bis drei Ziele oder doch besser 15-20 Ziele vereinbaren? Bis auf welche Organisationsebene hinab soll man Ergebnis-Kennzahlen wie den Deckungsbeitrag ansetzen? Welche qualitativen Komponenten sollen denn in eine Zielvereinbarung  einfließen? Soll man überhaupt noch Ziele vereinbaren? Und vor allem: Wie sollen die Zielerreichungen mit entsprechenden Anreizsystemen vernetzt werden?

Die Kernproblematik ist, dass es bei jeder Frage für jede der alternativen Positionen, die man dazu einnehmen könnte, gute Argumente gibt. Fragt man Vertriebsmitarbeiter, wird man hören, dass ihnen weniger Ziele (und niedrigere) lieber sind als viele. Fragt man den Controller, wird er darauf hinweisen, dass man umso sicherer steuern kann, je mehr Ziele vereinbart werden.

Es ist sicher nicht schädlich, wenn Vertriebsmitarbeiter einen Bezug zu den von ihnen erzielten Erträgen bekommen, den sie bei reinen Stückzahl-Messungen nicht so leicht erhalten wie bei Deckungsbeiträgen. Andererseits können Vertriebsmitarbeiter oft nicht

nachvollziehen, warum ein bestimmtes Produkt gerade diesen und keinen anderen Deckungsbeitrag erzielt.

Und was soll ein Zielvereinbarungssystem an Motivation leisten, wo 95% der Vertriebsmitarbeiter die Mindestziele, die für die variable Gehaltskomponente nötig sind, übertreffen?

Dies führt fast zwangsläufig dazu, dass alle Varianten der Ausgestaltung von Zielvereinbarungssystemen zu beobachten sind.

Da gibt es die „Philanthropen“, die die Flucht nach vorne antreten und Ziele radikal reduzieren oder sogar ganz abschaffen. Die Theorie dahinter ist, dass von Zielen befreite Mitarbeiter mit mehr Eigenverantwortung auch dauerhaft mehr Vertriebserfolge erreichen, weil sie über den persönlichen Kontakt zum Kunden eine bessere Beratung und damit auch dauerhaft höhere Erträge erzielen. Dieser moralisch-ethisch nachvollziehbare Ansatz stellt seine Protagonisten regelmäßig vor ein Problem, nämlich den mehr oder weniger stark ausgeprägten Einbruch der Vertriebsleistungen. Somit lässt sich dieser Ansatz zwar gut vermarkten, führt aber bei den Vorständen zu Schweißausbrüchen, denn ohne Vertriebserfolge lässt sich kein Ansatz lange durchhalten.

Dann gibt es die „Tüftler“, die permanent dabei sind, ihr ausgefeiltes Zielsystem um Komponenten, z.B. Kundenbefragungsergebnisse, zu ergänzen, andere Komponenten neu zu gewichten oder wegzulassen, die Entlohnungsstruktur weiter auszudifferenzieren oder Zusatzimpulse in Form von Sonderpreisen oder speziellen Kampagnen zu erfinden. Das Ziel ist es dabei, die Beziehung „Leistung gegen Geld“ unter den Radar der Verbraucherschützer und Aufsichtsämter zu drücken, um den Druck auf die Vertriebsleistung nicht abschwächen zu lassen.

Dabei fällt auf, dass die Kreativität der zuständigen Stäbe zwar ständig anwächst, der Grenznutzen einer Veränderung am System aber immer weiter abnimmt, denn nach dem Motto „Mein Haus, mein Boot“ nutzt sich Geld als zentraler Motivator schnell ab, d.h. wenn man den monetären Anreiz nicht permanent erhöhen kann, müssen entweder die Beträge gleich bleiben und sinkende Motivation in Kauf genommen werden, oder die Zahl der Begünstigten immer weiter reduziert werden, um wenigstens bei den Top-Leistern steigende Beträge zahlen zu können.

Was also kann getan werden? Und wieso führen ausgeklügelte Zielsysteme nicht zu entsprechendem Verhalten bei den Vertriebsmitarbeitern? Ist Transparenz über Marktpotenziale (Kundensegmentierungen) kein hinreichender Motivator für ein verstärktes Engagement des Mitarbeiters?

Besonders anschaulich ist das Beispiel des Kundenberaters, der 600-800 Kunden zugeordnet bekommen hat und mit diesen Kunden seine persönlichen Ziele erreichen soll. Kein Vertriebsverantwortlicher bestreitet die These, dass der Berater maximal 150 dieser ihm zugeordneten Kunden wirklich aktiv betreut. Was passiert nun, wenn die Bank beschließt,

dem Berater die 600-800 Kunden persönlich zuzuordnen, also mit Namen und Kontonummer? Oder wenn man ihm die Hälfte seiner Kunden wegverschlüsselt und ihm 300-400 neue Kunden zuschlüsselt?

Bei der persönlichen Zuordnung wird nichts passieren, denn idR. erreicht der Berater mit den aktiv betreuten Kunden ca. 100% seiner Ziele. Warum sollte er sich also die Mühe machen, die anderen Potenziale anzugehen, wenn er mit seinem Kundenstamm bereits erfolgreich ist. Was kann das Management tun? Könnte man die Ziele verdoppeln? Wohl kaum, ohne eine Palastrevolution zu riskieren?

Bei der Umschlüsselung wird auch nichts passieren, denn zum einen müssen neu zugeschlüsselte Kundenverbindungen erst entwickelt werden, was eine temporäre Reduzierung der Vertriebsleistung erwarten lässt, zum anderen wird der Berater tendenziell nur den „Fehlbetrag“ der weggeschlüsselten Kunden zu ersetzen versuchen, womit der Nettozuwachs an Vertriebsleistung wohl überschaubar sein dürfte.

Es ist ein Dilemma, denn alle Logiken der klassischen Zielvereinbarungssysteme basieren auf einer These, die der Realität nicht standhält, nämlich dass Menschen sich nachhaltig von der Ratio, der Vernunft, der Zahlen in ihrem Verhalten beeinflussen lassen. Wenn dem nämlich so wäre, dann würden alle Vertriebswettbewerbe, bei denen die Stars gefeiert werden, zu einem Nachahmeffekt bei den „normalen Durchschnittsleistern“ führen. Es scheint aber noch keinem der Initiatoren dieser Wettbewerbe aufgefallen zu sein, dass immer dieselben auf dem Treppchen stehen und sich die Leistung des Durchschnitts dabei nicht verändert. „Die Trauben, die zu hoch hängen, sind sowieso sauer“, denkt nicht nur der Fuchs im Sprichwort, sondern auch der Durchschnittsberater unseres kleinen Beispiels von oben.          

Psychologen und Hirnforscher wissen seit langem, dass zwischen der Vernunft (Ratio) und dem Handeln die Emotion angesiedelt ist. Nicht aus der Vernunft heraus handelt der Mensch, sondern aus der Emotion. Das erklärt auch, warum es gute Führungskräfte immer wieder verstehen, außergewöhnliche Leistungen bei ihren Mitarbeitern zu wecken, während die gleichen Mitarbeiter bei anderen Führungskräften durch unterdurchschnittliche Ergebnisse auffallen. Wird unsere emotionale Sensorik nicht bedient, liefern wir nur Mittelmaß.

„Regeln und Anreize verhindern Katastrophen, aber sie führen zu Mittelmäßigkeit“, sagt Barry Schwartz, einer der renommiertesten Soziologen und Psychologen in den USA. Die Frage ist nicht, wie das Zielsystem ausgestaltet ist, sondern in welchem kulturellen Kontext es eingesetzt wird. Im Rahmen von Mobilisierungsprojekten sehen wir immer wieder, dass Mitarbeiter überhaupt kein Problem damit haben, dass ihre Vertriebsleistung gemessen wird. Ja, sogar, dass sie wollen, dass möglichst viele Aspekte ihres Agierens abgebildet werden, wenn sich dadurch der Wert ihrer Leistung abbilden lässt.

Zielsysteme stehen zumeist für Entmündigung. Es ist eine intellektuell überschaubare Leistung, das Gesamtziel eines Hauses auf die einzelnen Vertriebsköpfe herunter zu brechen

und einen Soll-Ist-Prozess zu installieren. Es ist ungleich anspruchsvoller, aber lohnender, eine Kultur der Eigenverantwortung, auch und gerade bei den Zielen, die sich eine Vertriebseinheit gibt, zu etablieren und zu entwickeln, Kreativität und Teamgeist zu fördern und einzufordern sowie Erfolge zu feiern.

Ohne Ziele geht es nicht, denn Blindflug geht selten gut. Auch ist meine persönliche Einschätzung seit vielen Jahren, dass im Retailvertrieb eine „goldene Regel“ gilt: Was nicht gemessen wird, wird nicht gemacht. Es gibt aber einen semantisch feinen, aber sehr grundlegenden Unterschied zwischen „Zielvereinbarung“ und „Erfolgsmessung“. In der Mobilisierung messen wir sehr intensiv und breitflächig, aber wir etablieren Eigen- bzw. Mitverantwortung und Teamgeist.  Für „Mechaniker“ besteht kein Unterschied zwischen Zielvereinbarung und Erfolgsmessung, weil es um Messen, Zählen und Wiegen geht. In der Mobilisierung sind wir dagegen sensibel für den Unterschied, für das kulturelle Umfeld, in dem Erfolge geplant und gemessen werden. Das macht es für Führungskräfte aufwendiger, aber meistens lohnender.

Wir brauchen im Retailbanking engagiertere und unternehmerisch denkende Mitarbeiter, weil der Kunde heute vielfach top-informiert ist. Der Mehrwert der Ortsbank ist die Kombination aus Nähe und Engagement, was aber auch bedeutet, dass der Kunde positiv überrascht werden muss, denn 08/15 bekommt er ja auch im Internet. Dazu brauchen die Mitarbeiter Freiraum und Ansporn; Ziele treten gegenüber Erfolgen in den Hintergrund.

Denken Sie mal darüber nach. Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung.

Herzliche Grüße aus Brand

Hans-Dieter Krönung