#34 – Die Macht der Stäbe – oder: Wofür braucht man eigentlich „Führungskräfte“?

Charlie Brown: „Hey Lucy, ich bin zurück.“ – Lucy: „Du bist was?“ – Charlie Brown: „Ich sagte, ich bin zurück.“ – Lucy: „Warst Du weg?“

(Peanuts)

Es gibt Klassiker des  unternehmensinternen Kleinkriegs, so wie die Schnittstelle zwischen dem Firmenkundenbetreuer und dem Kredit-Sachbearbeiter. Generationen von Managern und Beratern haben sich daran versucht, eine dauerhaft stabile Schnittstelle zu schaffen, um die grundlegenden Konflikte zwischen Kundenwunsch und Risikoneigung der Bank in Einklang zu bringen. Und so werden immer wieder die Schnittstellen überprüft und angepasst, die Prozesse neu beschrieben und die IT-Funktionalitäten erweitert. Mal gilt die Nähe zwischen Berater und Analyst als richtig, dann wieder (meist nach größeren Kreditausfällen) die Distanz. Man sucht nach der einen, der richtigen Lösung, die dauerhafte Stabilität und Ruhe schafft.

Aber wie meist im Management gibt es diese „richtige“ Lösung nicht. Es kommt darauf an, ob die Strategie der Bank eher auf Geschäftsausweitung oder auf Risikobeschränkung ausgerichtet ist, denn beides gleichzeitig als strategischen Schwerpunkt zu setzen, bedeutet, die ganze Last dieser ungeklärten Prioritätensetzung auf die oben beschriebene Schnittstelle, d.h. das menschliche Miteinander, zu verlagern. Entsprechend häufig „knallt“ es an dieser Stelle.

In den letzten Jahren ist ein weiterer dieser „Strukturgräben“ entstanden, nämlich der zwischen Vertriebseinheiten und den „Stäben“. Dabei möchte ich den Begriff „Stab“ im Folgenden nicht auf alle Stabsfunktionen beziehen, sondern primär auf diejenigen Organisationseinheiten, die sich mit der „Unterstützung“ bzw. der „Steuerung“ der Vertriebsmannschaften befassen. Das sind zumeist Vertriebs-unterstützende Einheiten, die dem zuständigen Vorstand zuarbeiten, oder Einheiten im Controlling, die sich mit der Analyse der Vertriebszahlen beschäftigen oder auch Unternehmens-übergreifende Strategie- bzw. „Unternehmensentwicklungs-„ Einheiten.

Häufig ist das Verhältnis zwischen den Vertriebs-Führungskräften und den Kollegen im Stab durch ein Hund-und-Katz-Spiel gekennzeichnet. Der Stab führt Analysen durch, erkennt Verbesserungspotenziale, konfrontiert die Vertriebs-Führungskräfte mit den Erkenntnissen und dem Veränderungsbedarf, holt die Unterstützung des Vorstands ein und wartet dann auf das Eintreten der Verbesserungen. Die Vertriebs-Führungskräfte bemühen sich mit unterschiedlicher Intensität, die vorgeschlagenen oder sogar beschlossenen Maßnahmen

bzw. Veränderungen umzusetzen. Erfahrungsgemäß gibt es ca. eine Million Gründe, warum beschlossenen Maßnahmen „nicht“, „nicht so“ oder auch „nicht jetzt“ umgesetzt werden können.

Ich bin sicher, jeder Leser weiß genau, was ich meine. Und sicher sagen sich viele Leser, dass es ja schließlich Aufgabe und Selbstverständnis einer Führungskraft in der Linie wäre, Bedenken oder objektive Hindernisse vor (!) dem Beschluss vorzutragen und nicht im Nachhinein Verweigerung zu üben. Aber so einfach darf man sich die Sache nicht machen.

Ich erinnere mich an den Fall eines Vorstandsvorsitzenden, der in bester Absicht und geleitet von der Überzeugung, die Dinge auch am besten beurteilen zu können, beschlossen hatte, die Funktion der Vertriebssteuerung bei sich selbst organisatorisch anzusiedeln. Dadurch, so war er sich sicher, würde er den besten Einblick in die Realität der Vertriebsarbeit bekommen und damit auch die richtigen Impulse setzen können. Nach einiger Zeit bemerkte er, dass das Verhältnis zwischen seinem Stabs-Chef und den Vertriebs-Führungskräften in etwa so war, wie oben zwischen Lucy und Charlie Brown beschrieben; man sprach zwar miteinander, aber nur das Nötigste.

Mehr noch: Die als sinnvoll empfundenen Vertriebsimpulse des Stabes wurden, so schien es, fast systematisch von der Linie boykottiert. Eine Intensivierung der Impulse, etwa durch Erhöhung der Anzahl Vertriebskampagnen, führte nur zu erhöhtem Stress auf beiden Seiten, aber nicht zu mehr Vertriebserfolgen. Was war das Problem und was war zu tun?

Um das Problem und die Lösung wirklich zu verstehen, muss man, wie so oft, weiter ausholen. Die ursprüngliche Rolle von Stäben war im Allgemeinen die Unterstützung der Linie. Tätigkeiten, die nicht unmittelbar Vertriebs-aktive Dinge umfassten (z.B. Vertriebsstatistiken, Beschwerden, Kampagnen), wurden in Stabseinheiten gebündelt, mehr nicht. Dadurch wurde das Zusammenspiel zwischen dem Top-Management und den Linien-Führungskräften nicht tangiert. Gesprächspartner und Ratgeber des Vorstands waren die Führungskräfte, die die Impulse, die sie selbst mit diskutiert und z.T. auch mit beschlossen hatten, umzusetzen hatten. Die Rolle, auch die Wertigkeit, einer Führungskraft war eindeutig definiert; Stäbe waren Erfüllungsgehilfen.

Diese klare Struktur und Rollenbeschreibung hat sich in vielen Unternehmen in den letzten Jahren deutlich verschoben. Aus der persönlichen und meist auch räumlichen Nähe zwischen Vorstand und Stab entstanden veränderte Machtverhältnisse. Für viele Vorstände wurden die Stabs-Chefs zum bevorzugten Sparrings-Partner; entsprechend hochrangig und kompetent wurden diese Positionen dann auch besetzt. Es kam eine Spirale in Gang, in deren Verlauf die ursprüngliche Beziehung zwischen Vorstand und Führungskräften zunächst durch ein Dreiecks-Verhältnis Vorstand-Linie-Stab und später durch ein faktisches Abwerten der Linienfunktion ersetzt wurde.

Wie im Privatleben, so sind Dreiecks-Verhältnisse auch im Unternehmen extrem instabil, weshalb wir heute häufig eine Verschiebung der Hierarchieebenen beobachten können, d.h. gelebt wird eine Unterordnung der Linie unter den Stab.

Triebfeder dieser Entwicklung ist vor allem Bequemlichkeit. Es ist angenehm, quasi vor der Tür jemanden sitzen zu haben, der, gut ausgebildet und rhetorisch geschult, die vielen kleinen und großen Führungsaufgaben des Vorstandes vorbereitet und deren Umsetzung kontrolliert. Dabei entsteht natürlich auch eine menschliche Nähe, denn vor der Tür lässt man nur jemanden sitzen, den man mag, und diese menschliche Nähe schafft auch die Plattform für die Beeinflussung des Meinungsbildes. Dieser Einfluss ist aber de facto eine Abwertung der Rolle und Aufgabe der Linie, die in solchen Kulturen oft zum „Umsetzungs-Beauftragten“ degeneriert. Darin liegt eine große Gefahr.

Es ist ja nicht so, dass die Ratschläge und Meinungen einer Führungskraft im Stab in irgendeiner Art und Weise grundsätzlich kritisch zu sehen wären. Im Gegenteil, sehr häufig ist diese Position für die Entscheidungsfindung von großem Nutzen. Die beschriebene Bequemlichkeit hat aber einen hohen Preis, nämlich den schrittweisen Verlust der Solidarität der Linien-Führungsmannschaft und damit der dahinter liegenden Organisation. Wenn sich eine erfahrene und kompetente Führungskraft, die zudem auch noch die Verantwortung für die erfolgreiche Umsetzung von Steuerungsimpulsen trägt, nicht in die Entscheidungsprozesse glaubhaft (!) eingebunden fühlt, erscheint es mir menschlich nachvollziehbar, dass Widerstände entstehen.

Die Lösung liegt daher beim Vorstand. Das Führen der Linie ist aufwändiger und mitunter nervenraufreibender als die Auseinandersetzung mit einem Stabs-Chef, aber es gibt dazu keine Alternative. Entweder wird die formale Rolle als Linien-Führungskraft auch wirklich und authentisch gelebt oder die Organisation schaltet sukzessive auf Widerstand. Das bedeutet nicht, dass man die Stäbe abbaut oder schwächt. Die besten Entscheidungen werden im Allgemeinen getroffen, wenn alle Aspekte, auch kritische, einbezogen werden. Und natürlich ist keine Linien-Führungskraft dagegen immun, eigene Interessen oder auch die eigene Bequemlichkeit höher zu bewerten als die Interessen der Gesamtorganisation. Schon deshalb sollte man die Stäbe hochkarätig besetzen.

Ich erlebe, insbesondere bei größeren Organisationen, die merkwürdigsten Konstellationen. Stabs-Führungskräfte, die den Kreis der Linien-Führungskräfte „führen“, weil der Vorstand es nicht tut, und Vertriebssteuerungs-Einheiten, die wie „Big Brother“ durch die Organisation streifen, um Schwachstellen ausfindig zu machen. Und dann wundert sich der Vorstand, warum sich im Vertrieb eine kritische, destruktive und damit auch träge Stimmung breitgemacht hat. Interessanterweise führt dies auch zu Frustration in den Stäben selbst, denn niemand ist gern immer nur unbeliebt bzw. hat das Gefühl, wie Sysiphos immer die Kugel den Berg hinaufzuschieben.

Man sollte die Führungskräfte in der Linie als das behandeln, was das Organigramm aussagt, nämlich als die dem einzelnen Vorstand am nächsten stehenden Partner. Das bedeutet eine große Nähe, gegenseitiges Vertrauen und Solidarität im Führungsteam. Wenn eine Führungskraft diese Rolle nicht annimmt oder ausüben kann, muss sie ausgetauscht werden. Eine Stabs-Führungskraft kann diese Rolle niemals ersetzen und sollte dies auch niemals versuchen, im eigenen Interesse.

Der Vorstand muss der Gefahr der Bequemlichkeit widerstehen, denn er wandelt diesbezüglich auf einem schmalen Grad. In einer stabilen Führungsstruktur spielt der Stab eine wichtige Rolle als Analyst, Impulsgeber, Querdenker und „Störenfried“, aber niemals als Ersatz für die Linien-Kompetenz. Es ist ja auch schon häufig beobachtet worden, dass Stabs-Chefs, die dann in die Linie gewechselt sind, erkannt haben, dass der Elfenbeinturm, aus dem sie kamen, eben auch nicht alle relevanten Facetten der Realität abbilden und berücksichtigen kann.

„Im Zweifel für die Linie“ lautet daher meine Empfehlung für alle Vorstände, die sich mit der Balance in Dreiecks-Verhältnissen schwertun. Das soll kein Appell gegen die Rolle und Bedeutung der Stäbe sein, sondern für die Sensibilität im Umgang mit der Linie und gegen die Bequemlichkeit.  „Führung“ und „Bequemlichkeit“ schließen einander aus, denn wenn die Führung bequem geworden ist, weiß man, dass etwas nicht stimmt. Wie heißt es so schön: Fördern und fordern Sie Ihre Führungskräfte. Also, worauf warten Sie noch …

Herzliche Grüße aus Brand

Hans-Dieter Krönung