#39 – Fibonacci und der goldene Schnitt – oder: Vom herausragenden Wert der Balance

„Die Natur kreiert nichts ohne Bedeutung“

(Aristoteles)

Schon die alten Griechen kannten den „Goldenen Schnitt“. Mathematisch betrachtet definiert der „Goldene Schnitt“ das optimale Verhältnis zweier Streckenabschnitte (oder anderer Größen), das dann gegeben ist, wenn das Verhältnis des größeren Streckenabschnitts (Major) zur Gesamtstrecke exakt dem Verhältnis des kleineren (Minor) zum größeren Streckenabschnitt entspricht.

Der „Goldene Schnitt“ fand später, bspw. im Mittelalter, auch Einzug in kulturelle, philosophische und architektonische Bereiche, so z.B. beim Bau großer Gebäude wie Kathedralen etc.

Der italienische Mathematiker Fibonacci aus Pisa „erfand“ oder „entdeckte“ im 12. Jahrhundert die nach ihm benannte Zahlenfolge, bei der sich eine nächste Zahl einer Zahlenfolge immer durch Addition der beiden vorausgehenden Zahlen ergibt, also folgt bspw. auf die 5 die 8, weil sie die Summe aus der der 5 vorausgehenden 3 und der 5 ist. Auf die 8 folgt dann die 13  als Summe aus 8 und 5 usw.

Man müsste noch erwähnen, dass die Griechen diese Zahlenreihe auch schon kannten, und, dass Fibonacci sie nutzte, um die Populationsentwicklung von Kaninchen zu berechnen.

Auch der deutsche Comedian Dieter Nuhr hat auf diese Zahlenreihe ja schon Bezug genommen, indem er betonte, dass es zu seinen gesicherten Erkenntnissen zähle, dass 1 und 1 nicht immer zwei sei, auch wenn die Dame in der Tierhandlung versichert habe, beide Kaninchen seien „ganz sicher“ Weibchen.

Interessant ist, dass das ideale Verhältnis im „Goldenen Schnitt“ durch eine irrationale Zahl ausgedrückt wird, mithin durch die uns geläufigen rationalen Zahlen nicht exakt definiert werden kann (wie die irrationale Zahl Pi als Größe zur Definition des Kreisumfangs auch), dass aber die Fibonacci-Reihe in allen Quotienten der jeweils sich folgenden Zahlen eine sehr gute Annäherung an diesen „Goldenen Schnitt“ darstellt.

Das besonders Beeindruckende an dieser mathematischen Logik ist nun, dass sich genau diese Relationen in der Natur sehr häufig wiederfinden, z.B. bei der Struktur von Bäumen und Blättern, tierischen Bauwerken und anderen biometrischen Konstruktionen, von denen die Forscher und Entwickler schon zahlreiche Inspirationen für technische Lösungen unseres Alltags erhalten haben (s. Tragflächen von Flugzeugen etc.).

Das Wesen des „Goldenen Schnitts“ ist jedoch die Balance. Im „Goldenen Schnitt“ bringt man Unterschiedliches (länger/kürzer, horizontal/vertikal etc.) in ein stabiles Verhältnis und schafft damit eine große Stabilität. Auch wenn die Relevanz des „Goldenen Schnitts“ für wesentliche Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte in der Wissenschaft nicht unumstritten ist, so symbolisiert er doch ein gewisses Faszinosum, weil man spürt, dass hinter diesem mathematischen Konzept noch deutlich mehr steckt.

Ich bin sicher nicht der Erste, der die Relevanz des „Goldenen Schnitts“ für das Management untersucht, aber es kann ja auch nicht schaden, es wieder einmal zu versuchen.

Zumal wir ja in einer Zeit leben, die stürmische Veränderungen erfährt, und viele von uns daher auch nach stabilen Orientierungen suchen.

Zunächst einmal erscheint mir bedeutsam, zu verdeutlichen, dass die im „Goldenen Schnitt“ beinhaltete Balance als Ausdruck einer strukturellen bzw. konstruktiven Stabilität verstanden wird. Ein Baumeister, der sein Bauwerk am „Goldenen Schnitt“ ausrichtete, also das Verhältnis von Länge zu Breite und Höhe in diesem Sinne optimierte, konnte damit rechnen, nicht nur den optimalen ästhetischen Punkt für das Erscheinungsbild des Bauwerks gefunden zu haben, sondern auch den konstruktiv stabilsten.

Wir verbinden in unserer Alltagswahrnehmung mit dem Begriff „Balance“ typischerweise etwas Instabiles, wie z.B. der Balance-Akt eines Hochseil-Akrobaten oder das Austarieren einer Kugel auf einer gebogenen Fläche.

Das aber ist nicht richtig, denn die Mathematik zeigt über den „Goldenen Schnitt“, dass Balance als Grundlage von Stabilität verstanden werden kann, wenn es um prinzipiell widerstreitende Kräfte geht, die zusammengeführt werden müssen. Der Hochseil-Akrobat kann nur überleben, weil er es in einer grundlegend instabilen Welt von Gravitation, zurückzulegender Wegstrecke und einem schmalen Seil als einziger Verbindung zwischen diesen Dingen schafft, eine Balance zu erreichen.

Es ist doch ein faszinierender Gedanke, den Begriff der Balance auch im Management als Zielgröße für Stabilität in prinzipiell instabilen Umgebungen zu erkennen.

Denn es ist ja in der Tat die herausragende Aufgabe des Managements (der Führung), in einer sich permanent verändernden Marktumgebung stets den bestmöglichen Ausgleich zwischen den widerstrebenden Interessen zu finden. Vertrieb, Effizienz und Aufsicht sind unbestreitbar Parameter einer prinzipiell instabilen Marktumgebung, denn der Lösungsraum ist bei dem Versuch, allen diesen Anforderungen gerecht zu werden, erfahrungsgemäß praktisch immer leer.

Es ist also völlig nachvollziehbar, dass viele Manager quasi folgerichtig nach „klaren Vereinbarungen“ streben, d.h. detaillierte Planungen erstellen und Verantwortlichkeiten

festlegen, um für sich selbst Stabilität und Sicherheit zu bekommen. Leider werden diese Planungen und Beschlüsse in schöner Regelmäßigkeit von der Realität wieder einkassiert, was wiederum häufig dazu führt, dass sich in der gelebten Management-Praxis eine gefährliche Schwerpunktsetzung bildet. Man erklärt faktisch einen der beschriebenen Parameter zum dominanten, d.h. es wird entweder nur nach der optimalen Erfüllung aufsichtsrechtlicher Bestimmungen oder aber nach maximaler Kosteneffizienz gesteuert (die konsequente Vertriebsorientierung ist eher seltener zu beobachten).

Balance zu halten bedeutet ja implizit, bereit zu sein, in einer Welt der permanenten Veränderung immer wieder nach dem optimalen Punkt zu streben, also immer wieder alle Parameter auf den optimalen „Schnitt“ hin auszurichten.

Dies aber erfordert dynamisches, nicht statisches Handeln. Es ist genau diese gedankliche Hürde, über die heutzutage Manager springen müssen, wenn sie dauerhaft erfolgreich führen wollen: Nicht die Statik, sondern die Dynamik erzeugt Stabilität durch permanentes Streben nach Balance.

Sie mögen vielleicht zögerlich sein, anzuerkennen, dass dieser Grundsatz von herausragender Bedeutung für den Geschäftserfolg ist.

Aber es ist relativ leicht nachweisbar, dass die überdurchschnittlich erfolgreichen Institute (und damit meine ich auch „nachhaltig“ im Sinne von „langfristig“) auch deshalb so erfolgreich sind, weil sie bspw. in allen (!) und nicht nur in ausgewählten Kennzahlen zu den besten Wettbewerbern zählen.

Ich treffe in den meisten Fällen auf Institute, die stolz sind auf bestimmte Stärken und betonen, dass sie erkannt haben, dass sie sich auch um ihre Schwächen kümmern müssen („Wir sind auf einem guten Weg!“). Andere, erfolgreichere Institute, haben dies aber schon vor längerer Zeit getan und umgesetzt, weshalb sie bereits jetzt „ausbalanciert“ sind.                    

Es ist seit langem klar, dass das Filialnetz der Regionalbanken angesichts des schon jahrelangen Rückgangs des Bringgeschäfts ausgedünnt werden muss. Leider haben die meisten Institute angesichts der damit verbundenen Mühen diesen Prozess gescheut und nur graduelle Veränderungen vorgenommen. Jetzt werden sie von der Wucht der Veränderungs-Notwendigkeit eingeholt. Andere haben schon vor z.T. zehn Jahren begonnen, ihre Standort-Präsenz zu optimieren und weisen daher heute eine CIR von unter 50% auf. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass Statik eben keine Balance schafft.

In ausbalancierten Instituten wird nicht über „Entweder-oder“, sondern über „Sowohl als auch“ gesteuert. Das ist mühsamer, weil man permanent anpassen muss.

Dafür aber ersparen sich diese Institute die Notwendigkeit radikaler Veränderungsprozesse, und auch eine Fusion ist ein radikaler Veränderungsprozess.

Ausbalancierte Institute weisen nicht nur ausbalancierte Kennzahlen auf, sondern auch eine größere Gelassenheit. Sie haben alle entscheidenden Parameter im Blick; sie werden nicht so leicht überrascht. Sie haben ihren „Goldenen Schnitt“ gefunden; das beruhigt die Nerven.

Balance bedeutet Stabilität, das ist die Erkenntnis aus der Beschäftigung mit Fibonacci und dem „Goldenen Schnitt“. Balance bedeutet aber auch Aufmerksamkeit, denn wenn der optimale, wenn auch niemals vollständig erreichbare Punkt aus den Augen verloren wird, drohen gravierende Eingriffe und Veränderungen mit den entsprechenden Folgen für die Stabilität und die Kultur eines Hauses. Es hat vielleicht auch seine Bedeutung, dass die Zahlen, die die Balance verkörpern („Goldener Schnitt“, „Kreisumfang“), irrationale Zahlen sind, sich also immer nur als niemals vollständig definierter Fixpunkt darstellen, dem man sich zwar annähern, den man aber nie erreichen kann.

Balance ist in diesem Sinne auch ein Appell an die niemals nachlassende Aufmerksamkeit. Hätte die Deutsche Bank noch ihre innere moralisch-ethische Balance und eine darauf basierende Aufmerksamkeit für den Ausgleich der Interessen, es wären ihr sehr wahrscheinlich sowohl der schleichende Niedergang als auch die schmerzhaften Korrekturversuche, die wir jetzt beobachten können erspart geblieben.

Die Deutsche Bank ist ein „gutes“ Beispiel für die Konsequenzen aus einer verloren gegangenen Balance.

Wir leben in stürmischen Zeiten grundlegender Veränderungen. Viele Experten und solche, die sich dazu berufen fühlen, überbieten sich derzeit in düsteren Szenarien. Es ist nicht einfach, die Sorgenvollen von den Interessen-Getriebenen zu unterscheiden. Und nicht jeder, der seine Hilfe anbietet, kann außer der Situationsanalyse auch Lösungen zur Therapie liefern.

Daher ist es umso wichtiger, dass jedes Institut seine innere Balance findet und behält. Dies umfasst Fragen der Struktur, der Transparenz der Prozesse, der Planung und der Steuerungsschwerpunkte, vor allem aber Klarheit über den zu gehenden Weg und seine Erfolgsfaktoren. Da gibt es kein „zu schnell“ und kein „zu langsam“, denn wer bspw. meint, schneller sein zu müssen als die anderen, kann auch schnell der erste sein, der falsch gelaufen ist. Auch für Timing gibt es einen „Goldenen Schnitt“.

Vielleicht hilft Ihnen dieser Blick aus den Katakomben der Mathematik, ihren Gedanken noch mehr Klarheit über den  Umgang mit Komplexität zu verschaffen. Finden Sie Ihre innere Balance und Stabilität.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine besinnliche Weihnachtszeit und einen guten Start ins neue Jahr,

Hans-Dieter Krönung