#5 – Push und Pull – Der kleine Unterschied, der über Gewinnen oder Verlieren entscheidet

Ich bin sicher, auch in Ihrem Unternehmen gibt es Bonus-Systeme, Leistungsanreize und Incentive-Programme. Ich selbst habe vor einigen Jahren auch Leistungs-abhängige Vergütungssysteme eingeführt und war sehr überrascht, dass es in dem einen Unternehmen seitens der Mitarbeiter und der Personalvertretung positiv und konstruktiv aufgenommen wurde, während es in dem anderen, durchaus vergleichbaren Unternehmen zu brüsken Abwehrreaktionen auf allen Ebenen kam.

Dabei war die Idee doch gut, den Mitarbeitern die Möglichkeit zu eröffnen, ihre starren Vergütungsstrukturen durch Mehr-Leistung zum Wohle des Unternehmens, aber auch zum Wohle des eigenen Geldbeutels zu flexibilisieren.

Wenn man versucht, den Gründen hierfür nachzugehen, stößt man zunächst auf wenig Ergiebiges. In beiden Unternehmen war man bemüht, den Mitarbeitern im Vertrieb jegliche Unterstützung zukommen zu lassen. Es gab Vertriebsunterstützungs-Einheiten, technische Vor-Selektionen von Kundenpotenzialen, Prozess-unterstützende Workflow-Systeme mit entsprechenden Beratungs-Tools, regelmäßige Führungs-Besprechungen, detaillierte Planungs- und Controlling-Systeme und sogar Vertriebs-Wettbewerbe, um regelmäßig die besten Vertriebs-Mitarbeiter zu prämieren und die anderen zu motivieren, es ihnen gleich zu tun.

In den Gesprächen mit den zuständigen Vorständen und Führungskräften klang es zunächst auch noch sehr ähnlich, wie man jeweils glaubte, den Vertrieb motivieren zu können, wie die Prozesse zu strukturieren seien und wie die Führungs-Philosophie ausgestaltet sowie umzusetzen sei. Allen Führungskräften war klar, dass es auf die Mitarbeiter vor Ort ankam, dass die Verantwortung für den Vertriebserfolg selbstverständlich in den Händen der Mitarbeiter liegen müsse, die mit den Kunden arbeiteten. Alle unterstützenden Einheiten seien nur dafür da, den Mitarbeiter vor Ort bestmöglich zu unterstützen.

Ich gebe zu, dass ich lange gebraucht habe, bis ich dahinter kam, was der eigentliche Grund für die großen Leistungs-Unterschiede in der Vertriebsarbeit der beiden Unternehmen war, der sich hinter den weitgehend identischen Aussagen verbarg. Es war mir aufgefallen, dass mir in dem einen Unternehmen die Führungskräfte immer wieder erzählten, dass es doch eigentlich gar nicht so schwer sei, was der Vertriebsmitarbeiter vor Ort zu machen habe, schließlich habe man ihn doch so weit unterstützt, dass er im Grunde nur noch das machen müsse, was man für ihn schon vorgedacht hatte.

Das war es. Mir wurde schlagartig klar, welchen Faden eines großen „Problem-Wollknäuels“ ich in der Hand hielt und ich begann, den Faden aufzuziehen. Ich schaute detaillierter nach, wie denn die Planungsprozesse im Vertrieb ausgestaltet wurden und ich erkannte, dass zwar in beiden Unternehmen Planzahlen diskutiert und gemeinsam zwischen Vertriebs-management und Vertriebs-Führungskräften verabschiedet wurden, dass aber in dem einen Unternehmen die Planzahlen für das kommende Jahr zentral erarbeitet und abgestimmt wurden, bevor sie mit den Vertriebs-Führungskräften „besprochen“ wurden. Diese „Besprechungen“ waren im Grunde eine Befehlsausgabe, d.h. es wurde erläutert, warum diese Planzahlen richtig, notwendig, angemessen und erreichbar seien. Die Zahlen wurden von den Vertriebs-Führungskräften entgegen genommen, es gab ein paar Nachfragen, aber im Kern fand man sich mit den Zahlen ab.

Auch in dem anderen Unternehmen wurden die Planzahlen zentral zusammengestellt und abgestimmt, aber erst, nachdem man mit den Vertriebs-Führungskräften gesprochen und deren Einschätzungen eingeholt hatte. Diese wiederum hatten zuvor mit ihren Vertriebsmitarbeitern gesprochen und deren Einschätzung des Machbaren und Erreichbaren eingeholt. Dann begann ein iterativer Prozess, bei dem keine Seite, weder die Vertriebssteuerung noch die Vertriebs-Führungskräfte, auf ihrer Position bestand. Man diskutierte wirklich über die Möglichkeiten, Chancen und Risiken sowie die notwendigen Unterstützungs-Maßnahmen. Die schließlich verabschiedeten Planzahlen waren Ziele, die sich die Vertriebs-Mitarbeiter und -Führungskräfte im Prinzip selbst gegeben hatten.

Und es kam dabei durchaus vor, dass der Vertrieb höhere Ziele als machbar ansah als die Vertriebssteuerung.

Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass in diesem Unternehmen die Idee einer leistungsabhängigen Gehaltskomponente positiv aufgenommen worden war.

Was also war der wahre Grund für diese im Detail doch so fundamentalen Unterschiede, denn ich bezweifle nicht, dass sich auch in dem erstgenannten Unternehmen die Führungsmannschaft einen Planungsprozess wünschte, der dem des zweiten Unternehmens vergleichbar war. Aber irgendwie war es nicht gelungen, dieses Maß an Mitverantwortung (Commitment) bei den Vertriebs-Mitarbeitern zu erzeugen.

Durch weitere, vertiefende Gespräche fand ich bestätigt, was ich vermutet hatte. Der Vorstand und die Führungskräfte im erstgenannten Unternehmen trugen tief in sich die Vorstellung, dass sie eine Maschine zu managen hatten, die reibungslos funktionieren sollte. Die Mitarbeiter waren Rädchen in einem Uhrwerk, was sich durch detaillierte Prozess-Beschreibungen ausdrückte. Die Führungsmannschaft war bestrebt, alle Prozesse möglichst präzise und durchgängig steuern zu können, um keine Abweichungen zuzulassen. Die Revision war die mächtige „Polizei“, die fortwährend auf der Suche nach weiterer Absicherung des Geschäftssystems war.

In dieser Vorstellungswelt redet man zwar mit den betroffenen Mitarbeitern und Führungskräften, aber nicht, um auch von ihnen zu lernen, sondern, um ihnen immer wieder zu sagen, was sie wie zu tun haben. Fast hört man mitunter dann ein Bedauern heraus, die Dinge vor Ort nicht selbst machen zu können, was sich auch hinter der Formulierung verbirgt: „Dann muss ich (!) eben als Vertriebsmitarbeiter diese oder jene Maßnahme ergreifen…“, bzw. dass man es mit Menschen und nicht mit Robotern zu tun hat.

Diese Form der Steuerung einer Organisation bezeichne ich als „Push“-Philosophie, weil nach diesem Verständnis nur über Druck Veränderungen im Leistungsniveau der Organisation möglich sind. In dieser Welt werden Organisationen angetrieben, indem Prozesse optimiert, Workflows verbessert, Controlling-Instrumente verfeinert und Mitarbeiter trainiert werden. Die Rädchen sollen sich sicherer und schneller drehen.

In der Welt der „Push“-Philosophie spielt die Individualität des Mitarbeiters eine eher störende Rolle, denn er soll ja nach den Vorstellungen des Systems funktionieren. Individualität und Persönlichkeit sind aber zwei Seiten ein und derselben Medaille, so dass Push-Philosophien auch schrittweise dazu führen, dass sich auf der Mitarbeiter-Ebene kaum noch Persönlichkeiten entwickeln, die in der Lage sind, später einmal eine unternehmerische Rolle im Unternehmen zu spielen. Die Kraft und Macht ausgefeilter Geschäftssysteme führt tendenziell zu einer Verarmung an unternehmerischen Persönlichkeiten, weshalb in vielen sehr großen Organisationen tatsächlich sehr viele „Ameisen“ unentwegt unterwegs sind, aber ohne dass jederzeit die Stringenz der Zielverfolgung klar ist. So entsteht die von vielen Vorständen in diesen Organisationen beklagte Komplexität mit ihren vielfältigen negativen Folgen für Effizienz und Effektivität – eben weil der Aufwand zur Steuerung der „Ameisen“ mindestens linear ansteigt.

Eine derart „verarmte“ Organisation kann dann tatsächlich irgendwann nur noch durch reinen Druck, durch Angst und Peitsche, zu (zeitweise) höherer Leistung stimuliert werden.

Wesentlicher noch ist aber die mittlerweile in vielen Organisationen gereifte Erkenntnis, dass Druck nicht endlos steigerbar ist. Es ist vielmehr wie bei einem alten Fahrrad-Reifen, den man wieder aufzupumpen versucht. Auch wenn man den Druck immer weiter erhöht, nimmt der Reifen keine feste Form mehr an, weil die Luft an zu vielen und immer neuen Stellen entweicht.

Ein weiterer Effekt der „mechanisch“ geprägten „Push“-Philosophie ist die ihr inhärente Misstrauenskomponente. Das Ur-Modell der Push-Welt ist das Konzept der taylor`schen Arbeitsteilung, das von Henry Ford zu Beginn des 20. Jahrhunderts als industrielle Revolution bei der Automobil-Fertigung eingeführt wurde.

Ungelernte Arbeitskräfte und sehr kleinteilige Aufgaben-Zuschnitte erforderten einen entsprechenden Überwachungsaufwand, weil man von ungelernten Mitarbeitern keine Loyalität der Firma oder dem Produkt gegenüber erwarten durfte. Man musste seitens der Unternehmensleitung misstrauisch sein und die Kontrollinstrumente entsprechend ausgestalten; das war die Geburtsstunde der Stabsfunktionen. Wenn man sich heute die Komplexitätskosten großer Organisationen anschaut, dann liegen sie ganz überwiegend in den Stabsabteilungen.

Vor ein paar Jahren sprach ich mit dem Fußball-Bundesliga-Trainer Jürgen Klopp über seinen Erfolg, den er mit Mainz 05 erreicht hatte (erstmaliger Aufstieg in die Bundesliga). Sein wichtigster Erfolgsfaktor, so seine Aussage, sei, dass er jedem Spieler, mit dem er in die Saison starte, egal ob Stamm- oder Ersatzspieler, glaubhaft vermitteln könne, dass er auf ihn zähle, ohne wenn und aber. Jeder Spieler müsse das Gefühl haben, das er das uneingeschränkte Vertrauen des Trainers habe. Nur so könne man erwarten, dass der Spieler auch sein ganzes Potenzial zum Wohle der Mannschaft und des Vereins einsetze.

Vertrauen bedeutet aber Dialog, sich mit dem anderen auseinandersetzen, seine Meinung und seine Gefühle ernst nehmen. Hand aufs Herz, ist das die Realität in den Unternehmen? Könnte hier ein Erfolgsfaktor liegen, Organisationen, die eben keine Maschinen sind, nachhaltig erfolgreicher zu machen?

Entmündigung und Misstrauen durch „Push“ erzeugen Gegendruck, entweder durch Widerstand, meist aber durch unterschiedlich abgestufte Formen von Leistungsverweigerung. Wer kennt nicht den Vertriebskollegen, der weit hinter seinen Zielen herläuft, am Wochenende oder nach der Arbeit ein sehr engagierter Sportler oder Funktionär ist, der am Montag Morgen wieder in einen Stand by-Modus fällt?

Der Gegenentwurf zu „Push“ heißt „Pull“, d.h. eine Führungs-Philosophie, die den Menschen, nicht das System, in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns stellt.

Kommen wir zurück auf unser Beispiel-Unternehmen, bei dem die Vertriebsplanung tatsächlich beim Mitarbeiter anfängt, wo die Vertriebsmanager tatsächlich Vertriebs-„Unterstützer“ sind, wo man im partnerschaftlichen Dialog die Meinung der Basis ernst nimmt und einbezieht.

„Pull“ bedeutet nicht einen Mangel an Führung, denn dass am Ende die Unternehmensleitung entscheiden muss, ist klar. Entscheidend ist, dass die Ziele am Ende vor allem die Ziele der Vertriebsmitarbeiter sind, die sie nachvollziehen und annehmen können.

Ich erinnere mich an eine Sparkasse, bei der ich die „Pull“-Logik einführen konnte. Dort war man gewohnt, dass Schulungskapazitäten für Telefon-Vertrieb im Schnitt nur zu einem Drittel in Anspruch genommen wurden.

Nach der Einführung von „Pull“ waren die Schulungen doppelt überbucht, weil den Mitarbeitern plötzlich wichtig war, alles zu nutzen, was ihnen helfen konnte, Ihre Ziele zu erreichen, vor allem, weil es tatsächlich ihre (!) Ziele waren. Sie hatten sich über den Planungsprozess verpflichtet, und die Verpflichtung auch angenommen, diese Ziele zu erreichen.

Es gibt verschiedene Ansätze, „Pull“-Logik zu implementieren, und es wird weitere STANDPUNKTE geben, in denen solche Ansätze vorgestellt werden. Ohne dass sich aber die Unternehmensleitung dieser Philosophie glaubhaft verschreibt, ist keiner dieser Ansätze erfolgreich einzuführen.

In einer mir bekannten Sparkasse hat der Vorstand beispielsweise dem Vertrieb eine Wette gegenüber einem Verbund-Unternehmen, z.B. einer Bausparkasse, angeboten, eine bestimmte Anzahl von Abschlüssen zu erreichen und damit eine Prämie für den gesamten Vertrieb von der Bausparkasse zu erhalten. Im Prinzip ist dies nichts anderes als eine normale, ambitionierte Produktplanung mit einem Verbundpartner. Ich erwähne dies, um nicht das Gespenst der Drücker-Kolonne zu wecken, das mit dem hier geschilderten Fall nichts zu tun hat. Hier wurde also nichts anderes gemacht als in allen anderen Sparkassen oder vielen anderen Unternehmen, aber man hat es anders eingeführt. Der Ehrgeiz der Vertriebs-Mitarbeiter, sich selbst Ziele zu setzen und sie auch selbst zu erreichen, wurde geweckt, und die Aktion brachte noch deutlich mehr Abschlüsse als in der Wette mindestens erreicht werden mussten.

Und um einem weiteren vermeintlichen Einwurf entgegenzuwirken: Die Absatzzahlen brachen in den kommenden Jahren nicht ein, sondern blieben auf einem überdurchschnittlichen Niveau.

Es war wichtig für den Vertrieb, jeden Tag zu sehen, wie man sich dem Ziel näherte. Es gab Wettbewerbe zwischen den Filialen und zahlreiche innovative Ideen, wie man Kunden für Bauspar-Produkte ansprechen konnte, Ideen, die sich keine noch so clevere zentrale Vertriebssteuerung hätte ausdenken können. Die Wette war aber nicht der entscheidende Punkt, sondern die Überzeugung und die Philosophie der Geschäftsleitung, die Mitarbeiter ernst zu nehmen, einzubeziehen und ihnen auch Freiräume, beispielsweise bei der Arbeitsgestaltung und -organisation in der Filiale.

Dem sich jetzt schauernden Controller sei noch gesagt, dass diese Philosophie mehr innere Ordnung produziert als ein noch so ausgefeiltes Überwachungssystem. Es ist eben besser, Qualität zu produzieren als sie zu überwachen.

Retail-Vertrieb ist alles andere als einfach, eben weil viele Menschen mit vielen Menschen in Kontakt treten (müssen), um erfolgreich zu sein. Die Menschen in den Vertriebsorganisationen vor Ort sind daher ein Asset, nicht bloß ein zu überwachender Kostenfaktor. Menschen, die Vertrauen spüren, leisten mehr und brauchen weniger Überwachung. Das ist der Kern der „Pull“-Philosophie und ein nicht immer gleich augenfälliger, aber extrem bedeutender Einflussfaktor für Erfolg oder Misserfolg.

Das Institut für Mobilisierung hat sich dem Ziel verschrieben, die „Pull“-Philosophie weiterzuentwickeln und weiter umzusetzen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Auseinandersetzung und bei der möglichen Umsetzung.

Herzliche Grüße aus Brand,

Ihr

Hans-Dieter Krönung