Als der große deutsche Philosoph Schopenhauer von der „Welt als Wille und Vorstellung“ sprach, dachte er sicher nicht in erster Linie an die vielen Geschäftsführer und Vorstände mittelgroßer Unternehmen und Banken, die Tag für Tag die Frage beantworten müssen, wie sich denn die Welt um sie herum entwickeln wird und wie man darauf am besten zu reagieren hat.
Hätte sich Schopenhauer einen Eindruck von der Vielfalt der Welt- und Meinungsbilder verschaffen wollen, die in den genannten Kreisen herrscht, und eine entsprechende Informationsreise unternommen, ich glaube, er wäre selbst überrascht von der ungeheuren Vielfalt der bestehenden Weltbilder, die in den Köpfen der Entscheidungsträger großen Einfluss auf die operativen, aber auch strategischen Entscheidungen haben, die tagtäglich getroffen werden und maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des jeweiligen Unternehmens haben.
Ich beobachte seit vielen Jahren das Phänomen der „selbstentwickelten Wahrheiten“, wie ich es nenne, d.h. des individuellen Grundverständnisses der fundamentalen Wirkungszusammenhänge der Einflussfaktoren auf den Unternehmenserfolg. Diese „Weltbilder“ werden gespeist durch Fakten, Erfahrungen, persönliche und charakterliche Neigungen, individuelle Logik und „Quellen der Weisheit“, also dem ein oder anderen Management-Guru oder Berater. Der daraus entstehende Cocktail ist so individuell wie die Person, die ihn gemixt hat.
„Weltbilder“ werden in den operativen Entscheidungen eher selten bewusst aufgerufen, aber sie prägen diese dennoch maßgeblich. „Weltbilder“ werden dagegen erkennbar auf Festtags- oder Konferenz-Ansprachen, wenn es um grundsätzlichere Themen geht, aber auch dann, wenn im Kollegenkreis ein heikles und grundsätzliches Thema kontrovers diskutiert wird. Immer dann werden „Weltbilder“ transparent, wenn es um die Interpretation von Daten und Informationen, wenn es also um Bewertung geht.
Diskussionen sind dann plötzlich zu Ende, komplexe Sachverhalte werden auf eine einfache Bewertung zurückgeführt und entschieden, bestimmte Informationen werden ausgeblendet oder nicht aktiv einbezogen, während anderen entscheidende Bedeutung zugemessen wird.
Vor allem bei jüngeren Entscheidungsträgern in einem Gremium erzeugen diese Verhaltensmuster, die häufig mit „Erfahrung“ begründet werden, nicht selten beachtliche Frustrationen.
Ein „Weltbild“ ist ein individueller Filter zur Bewertung komplexer Daten- und Informationslagen. Er dient dem Entscheider als Vor-Selektion, wobei diese Vor-Selektion damit natürlich zwangsläufig subjektiv ist.
Die Kern-Problematik an diesen selbstentwickelten „Weltbildern“ liegt in zwei Punkten.
1. Der „Käseglocken-Effekt“
Wenn der Vorstandsvorsitzende eines Unternehmens für sich ein Bild der Welt um ihn herum entwirft und weiterentwickelt, in das seine gesamte Persönlichkeit, spezifische Erfahrungen und Neigungen sowie bestimmte, ausgewählte Informationsquellen einfließen, wird dieses Weltbild mit den Jahren für ihn selbst zwangsläufig immer unbewusster, weil selbstverständlicher. Die Psychoanalyse zeigt uns ja, wie tief verwurzelt Wahrnehmungen der Realität durch die eigene Persönlichkeitsstruktur beeinflusst und bewertet werden. Damit sind diese „Weltbilder“ individuelle Wahrnehmungen der Welt, weder vollständig noch objektiv.
Und so passiert es mir sehr häufig, dass ich nach zehn Gesprächen mit zehn Vorstandsvorsitzenden aus sehr vergleichbaren Unternehmen zehn völlig verschiedene Erklärungen („Stories“) zu den Markt- und Wettbewerbsentwicklungen und den Herausforderungen für das eigene Unternehmen bekomme.
Für den einen sind es die demographischen Entwicklungen, für den anderen die technologischen Entwicklungen, die über das Schicksal des Unternehmens entscheiden. Der Nächste sieht sich als handlungsunfähiges Opfer der regulatorischen Veränderungen, ein anderer stellt das eigene Geschäftsmodell ohne Perspektive grundsätzlich in Frage. Viele verschließen auch schlicht die Augen und verweisen darauf, dass es bis jetzt immer gut gegangen sei, während andere die Apokalypse unmittelbar vor der Tür wähnen.
Ich treffe auf die operativ Hektischen, die versuchen, überall „Sandsäcke“ aufzutürmen, sprich: Kosten zu sparen, während andere in Schulungs-Offensiven ihr Heil suchen. Der Eine sitzt auf dem Aussichtsturm, der Andere im Maschinenraum, und jeder weiß genau, warum das, was er tut, genau das richtige ist. Diese vielfältigen Verhaltensmuster sind allesamt Ausdrucksformen der individuellen „Weltbilder“.
Der „Käseglocken-Effekt“ tritt dann auf, und dies ist in den meisten Fällen so, wenn das Weltbild des Vorstandsvorsitzenden hineinsickert in die Wahrnehmungen und sogar die unternehmensbezogenen „Weltbilder“ der Führungskräfte und Mitarbeiter. Wenn im Grunde alle denken und fühlen wie der Chef, stülpt sich sukzessive eine „Käseglocke“ über das Unternehmen, d.h. es nimmt nur noch gefilterte Informationen auf, sucht auch nur noch
nach vor-selektierten Informationen und verarbeitet Informationen auch immer nur nach einem vorstrukturierten Verfahren, eben weil man es nicht mehr anders kennt.
Die Risiken dieser, meist ja unbewussten Kulturprägung und -veränderung sind evident. Meinen Kindern habe ich öfters die Geschichte von Hans Knabberrabber vorgelesen, dem Hasen, der sich jeweils einen Knoten in jedes Ohr machte, um zu zeigen, dass er ein besonderer Hase war. Leider hörte er dann auch nichts mehr. Und der letzte Satz der Geschichte ist mir noch sehr geläufig: „Am Abend holte sich der Fuchs den armen Hans Knabberrabber und er schmeckte ihm wie jeder Hase“.
2. Der „Kupplungs-Effekt“
Markt- und Wettbewerbsveränderungen, gepaart mit Unternehmens-internen Anpassungsprozessen, erzeugen für fast jedes Unternehmen einen kontinuierlichen Strom relevanter, aber komplexer und dynamischer Informationen, die verarbeitet und bewertet werden müssen. Die Bewertung dieser Informationen erfolgt immer unter zwei Blickwinkeln, einmal, inwiefern die Information, wenn sie materiell richtig ist, als relevant für das Unternehmen eingestuft werden muss, und zum anderen, welche Reaktion sie ins Unternehmen hinein initiieren soll.
In vielen Unternehmen findet eine systematische Auseinandersetzung mit den relevanten Informationen entweder deshalb nicht statt, weil der „Käseglocken-Effekt“ greift, oder, weil das Management als Ganzes nicht trainiert ist, sich mit verschiedenen Informationsquellen und verschiedenen Blickwinkeln systematisch auseinanderzusetzen und sich stattdessen auf sehr selektive, eingeschränkte Informationsquellen konzentriert. Wer sich aber immer nur auf die gleichen Quellen konzentriert, engt damit perspektivisch seinen Wahrnehmungs-horizont ein. Man sieht irgendwann nur noch die Dinge, die das entsprechende Informationssystem abbildet, und begreift die Welt um einen herum nur noch über dieses Wahrnehmungsorgan.
Überprüfen Sie bitte einmal, welche Steuerungsinformationen Sie wirklich nutzen, wie oft Sie in den vergangenen Jahren neue Informationssysteme, neue Entscheidungsparameter und neue Blickwinkel eröffnet haben. Ich bin sicher, viele von Ihnen werden feststellen, dass man sich über viele Jahre hinweg eher auf Informations-Routinen bewegt hat. Information ist aber ein höchst wechselhaftes Medium, das sich immer wieder neu gestaltet und daher auch immer wieder neue Wege der Erfassung und Verarbeitung erfordert.
Ich bin auch davon überzeugt, dass sich viele Vorstände auch deshalb nicht systematisch mit „nicht-routinierter“ Informationsverarbeitung befassen, weil sie die eigene Organisation nicht immer wieder durch neue Informationen in Unruhe versetzen wollen, was durchaus ein wichtiger Faktor ist. Denn eine Organisation, die permanent mit Neuigkeiten konfrontiert
wird, wo ständig wechselnde Orientierungen formuliert werden, verliert einen wichtigen Erfolgsfaktor: Kontinuität.
Ist Kommunikationspolitik daher also ein unauflösbares Dilemma, die notwendigerweise immer entweder zu viel Ruhe durch zu wenig Informationen oder zu viel Unruhe durch zu viel Informationen mit sich bringt?
Nein, wenn das Top-Management verinnerlicht hat, dass eine seiner Kernaufgaben die „Kupplungs-Funktion“ ist.
Es sind zwei verschiedene Aufgabenfelder und –typen des Top-Managements, nämlich die Informationssuche und –bewertung einerseits und das konzentrierte Setzen von Impulsen in die Organisation andererseits.
Es ist eine der Hauptaufgaben des Managements, Aufmerksamkeit zu gewährleisten. Es gibt keine andere Funktion im Unternehmen, die dem Top-Management die Aufgabe abnehmen kann, jederzeit „auf der Hut“ zu sein.
Das Unternehmen auf gefährliche Entwicklungen rechtzeitig vorzubereiten oder auch Chancen für das Unternehmen rechtzeitig zu erkennen, erfordert eine jederzeit sensible Beobachtung von Markt- und Wettbewerb, dem Radar eines Schiffes oder Flugzeuges vergleichbar. Dazu muss das Top-Management darin trainiert sein, ständig mit Informationen umzugehen, von denen die weitaus meisten nicht sofort zu Impulsen in die Organisation führen. Manche Bedrohung stellt sich als nicht relevant oder elementar heraus, viele Informationen bestätigen den gegenwärtigen Unternehmenskurs.
Die meisten Vorstände agieren leider weniger wie der Ausguck mit dem Fernglas, sondern wie der Maschinist im Maschinenraum, d.h. man ist mit dem Betrieb des Motors beschäftigt, also mit den Prozessen und internen Strukturen, nicht aber mit den Eisbergen, die draußen lauern.
Es ist aber eine wichtige Fähigkeit, sich im Top-Management ständig mit der gemeinsamen Wahrnehmung der Welt auseinanderzusetzen und die eigenen Sichten und Informationsquellen immer wieder zu überprüfen.
Durch das Zusammenwachsen von Technologie und Marktstrukturen werden permanent neue Märkte, Marktstrukturen, Erfolgsfaktoren und Chancenpotenziale kreiert. Was davon wichtig ist, ob, wann und wie daraus ein Impuls in das Unternehmen ergehen muss, ist eine elementare und nicht-delegierbare Kern-Aufgabe des Top-Managements. Dies ist die „Kupplungs-Funktion“.
Sowohl die permanente Auseinandersetzung mit der Herausforderungen des Marktes als auch das gezielte Setzen eines Veränderungsimpulses in die Organisation muss mit hohem Engagement und voller Konzentration geschehen, aber es sind zwei strikt voneinander zu trennende Aufgaben.
Beide Kern-Aufgaben des Managements muss man beherrschen. Wer die Kupplungs-Funktion nicht beherrscht, stürzt das Unternehmen ins Chaos, entweder wegen Unaufmerksamkeit hinsichtlich der Marktherausforderungen oder wegen Durcheinander im Steuerungsansatz.
Leider sind viele Vorstände an dieser Stelle nachlässig bis fahrlässig. Es gibt keine regelmäßigen, professionellen „Besinnungsmomente“, in denen nicht das Dringende das Wichtige verdrängt, sondern wo man den Standort hinterfragt und den Kurs bestimmt. Ich erlebe die Erarbeitung gemeinsamer Weltbilder oft als Appendix von entsprechenden Vorstandssitzungen, wo man diese Aufgabe eher als Last empfindet. Das führt dann dazu, dass das Gremium in diesen Themen nicht trainiert ist und dass daher jedes Vorstandsmitglied in Eigenregie sein Bild der Welt in die Organisation und auch nach eigenem Gutdünken Veränderungsimpulse setzt. So wird in der einen Einheit der Eindruck erzeugt, man stünde am Rande des Abgrundes, während in der anderen Einheit noch dem Tiefschlaf gefrönt wird. All dies führt zu obskuren Einflüssen auf die Unternehmenskultur und die Glaubwürdigkeit des Vorstandes.
Die „Kupplungs-Funktion“ muss aktiv entwickelt, organisiert und gesteuert werden, weil sie sonst, wie die eines Kraftfahrzeugs auch, zu schleifen beginnt. Aufmerksamkeit und Veränderung sind zwei Seiten ein und derselben Management-Münze, aber eben zwei (!) Seiten.
Die Informationsanalyse zu professionalisieren, um den „Käseglocken-Effekt“ zu vermeiden, wäre ein schöner Erfolg; Veränderungsimpulse konzentriert und gemeinsam zu setzen ein weiterer.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Herbst.
Viele Grüße aus Brand
Ihr Hans-Dieter Krönung