„Der Mensch kann nicht ohne Freude leben!“
(Thomas von Aquin)
Wenn sich Fachleute und solche, die sich als solche bezeichnen, in diesen Tagen zum Thema Vertrieb, insbesondere Filialvertrieb, äußern, meint man mitunter, seinen Ohren nicht zu trauen.
Es ist noch nicht lange her, da wurde das Totenglöckchen des Filialvertriebs geläutet, weil ja unzweifelhaft klar war, dass mit dem Aufkommen digitaler Prozesse und Produkte das Ende des Präsenzbankings à la Filiale beschlossen und verkündet war.
Folgerichtig wurde das schon seit geraumer Zeit zu beobachtende Filialsterben noch einmal intensiviert; nicht selten fielen die Hälfte der noch bestehenden Filialen dem Rotstift zum Opfer.
Die nächste Phase der Erkenntnis war dann, dass es womöglich doch nicht ratsam sei, den persönlichen Kontakt, etwa bei der Baufinanzierung oder der Altersvorsorge, ganz durch Video Chats oder Roboter-gestützte Prozesse zu ersetzen, vor allem, weil die meisten Kunden sehr wohl einen persönlichen Kontakt nach wie vor suchen, wenn es um „Vertrauens-Produkte“ geht.
Also wurde die Omnikanal-Fähigkeit zum zentralen Erfolgsfaktor gekürt, d.h. dem Kunden alle Produkte und Dienstleistungen auf allen denkbaren Kanälen zur Verfügung zu stellen. Das freut vor allem die Techniker, denn vom WLAN bis zum fallabschließenden Prozess ist alles vor allem eine Frage der technischen Ausstattung.
Wie immer bei diesen Erkenntnis-getriebenen Veränderungswellen gibt es diejenigen Institute, die weiter sind als andere. In den meisten Fällen sind das die Großbanken, die heute über innovative Labs und FinTec-Beteiligungen, Preis-gekrönte Online-Lösungen sowie durchgängige Digitallösungen verfügen, sich aber immer noch darüber wundern, dass die spürbaren Effekte auf Marktanteile und Deckungsbeiträge ausbleiben.
Glaubt man seriösen Analysen, dann sind es die Genossenschaftsbanken, die in Deutschland seit vielen Jahren die besten Entwicklungen hinsichtlich Ertragsentwicklung, Marktanteilen und Kundenzufriedenheit verzeichnen können. Mir sind diese Banken allerdings gerade nicht als innovative Vorreiter in der Digitalisierung bekannt, aber ich bin wohl auch kein „Experte“.
Die aktuelle Zauberformel ist jetzt die „Customer Journey“, also die aktive und möglichst leidenschaftliche Begleitung des Kunden über seine verschiedenen Kontaktpunkte mit der Bank hinweg. Das beginnt bei der Informationsbereitstellung per App oder Mail oder was auch immer, geht über die aktive Cross-Selling-Funktion gemäß dem „Next-best-product“-Ansatz, den wir alle von amazon her kennen („Kunden, die dieses Produkt gekauft haben, haben auch
folgende Produkte gekauft“) bis hin zum besonderen Erlebnis des persönlichen Kontakts. Die Botschaft ist klar und richtig: Wer früh und nah an seinem Kunden ist, diesen mit Leidenschaft und Kompetenz betreut, der wird auch überdurchschnittlich erfolgreich sein.
Ich lese dann in allen Fachzeitschriften Botschaften wie „Überraschen Sie Ihren Kunden“ oder „Begeistern statt Zufriedenstellen“ und muss gestehen, dass nichts daran falsch ist.
Für erfahrene Berater, die seit vielen Jahren ihren Kundenbestand aktiv pflegen und betreuen, sich mit Empathie um diese Menschen kümmern, dürfte der Begriff der „Customer Journey“ materiell nicht neu sein, denn das ist ja die Essenz guter Kundenbetreuung.
Wer von uns kann sich nicht an Beispiele toller Kundenberatung erinnern, wo man in der Tat das Gefühl gehabt hat, man sei dem Verkäufer wichtig und werde umfassend und fair beraten. In vielen dieser Fälle hat man dort auch ein Produkt gekauft, und das mit einem sehr guten Gefühl.
Es ist daher absolut zutreffend, solche Zielbilder auch in der Kundenbetreuung von Finanzinstituten zu formulieren, allerdings empfiehlt es sich auch, mal einen Blick in die Realität der Kundenbetreuung, bspw. im Filialgeschäft, zu werfen, um beurteilen zu können, was man realistisch von solchen Konzepten wie der „Customer Journey“ erwarten darf.
Ich möchte daher der „Customer Journey“ das Bild der „Employer Journey“ im Filialgeschäft gegenüberstellen.
Diese Reise beginnt 2007/2008 mit der Lehman-Pleite und der damit begonnenen Finanzkrise. Banken wurden mit Staatshilfen gestützt und die Politik begann, die Regulatorik auszubauen. In der Folge wurden Verordnungen wie Mifid II, die Verbraucherkreditrichtlinie, die Wohnimmobilien-Kreditrichtlinie, diverse Wertpapier-Beratungsvorschriften, das Geldwäschegesetz usw. erlassen, die alle signifikanten Einfluss auf das tägliche Agieren eines Filialmitarbeiters haben.
Neben der Regulatorik begann auch die Phase der Niedrigzinsen, die durch das staatlich verordnete Fluten der Märkte mit Liquidität verursacht wurde. In der Folge fiel praktisch das komplette Passivgeschäft der Banken weg, d.h. auch beste Kundenbestände konnten von da an ihren Berater nicht mehr „ernähren“, d.h. seine Zielerreichung sicherstellen.
Außerdem begann sich der Druck zu verstärken, trotz dieser objektiven Erschwernisse mehr Erträge aus dem Filialgeschäft zu ziehen, weil an anderer Stelle (Eigengeschäft) die Erträge unwiederbringlich weggebrochen waren.
Und wäre das nicht schon Qual genug gewesen, begann zeitgleich auch der Siegeszug der Digitalisierung, d.h. neue Geschäftsmodelle (Plattformen, FinTechs) erschweren das reguläre Geschäft, neue Prozesse und Produkte müssen verstanden und umgesetzt werden (Digital Natives) und die Kunden müssen selbständig kontaktiert werden, weil sie nicht mehr von sich aus in die Filialen kommen (Holgeschäft).
Dabei ist bislang noch unerwähnt geblieben, dass im Zuge dieser fundamentalen Umwälzungen in großem Umfang Filialen geschlossen und Mitarbeiter abgebaut wurden sowie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (z.B. Konsumentenschutz, Nachhaltigkeitsforderungen) deutlich kritischer sind als noch vor 10 Jahren.
Das Bemerkenswerte an dieser „Employer Journey“ ist, dass sie kein einziges Element enthält, was dazu beitragen könnte, die Aufgabe der Kundenbetreuung in einer Filiale attraktiv erscheinen zu lassen. Keine einzige dieser Veränderung hat den Spaßfaktor an der Arbeit gesteigert, alle Veränderungen haben das Arbeiten erschwert bzw. haben sogar massiv Unsicherheiten gefördert.
Es ist eine Binsenweisheit, dass Leistung dauerhaft nur dort entstehen kann, wo auch Spaß und Anerkennung zu Hause sind. Spaß und Leistung sind nicht nur keine Gegensätze, sondern bedingen einander.
Wenn jetzt die Experten ernsthaft von den Filialorganisationen fordern, man solle die Kunden begeistern, dann ist das zwar wünschenswert, aber geht an der Realität der gegebenen Voraussetzungen weit vorbei.
In den meisten Instituten genießt Filialvertrieb keine besondere Wertschätzung, was sich schon allein daran zeigt, dass höchst selten Führungskräfte aus dem Filialvertrieb in den Vorstand aufrücken. Man soll doch nicht glauben, dass dies die Filialmitarbeiter nicht auch mitbekommen und bewerten können.
Für den Filialvertrieb gilt in besonderem Maße, was für alle Organisationen gilt: Es sind keine Maschinen, sondern Organismen mit Gefühlen und dem Wunsch nach Anerkennung. Viele Führungskräfte investieren horrende Beträge in die Digitalisierung, sind aber extrem knausrig, wenn es um Investitionen in den Filialvertrieb geht. Deutlicher kann man Geringschätzung nicht dokumentieren. Da helfen auch keine Sonntagsreden, in denen der Wert der Filiale und der Mitarbeiter betont wird.
Die „Customer Journey“ wird eine Chimäre bleiben, die man verfolgen, aber nie erreichen kann, wenn die „Employer Journey“ nicht verändert wird.
Ich erlebe derzeit, wie überbeschäftigt die meisten Institute mit Projekten sind, die irgendwann in der Zukunft hoffentlich einmal einen Nutzen stiften, weil man unbedingt mit der Zeit gehen möchte.
Vielleicht ist es der große, noch unentdeckte Wettbewerbsvorteil der Genossenschaftsbanken, neben allen aktuellen Themen, die zu bearbeiten sind, in der Breite niemals den Respekt und die Wertschätzung für den „Vertrieb vor Ort“ verloren zu haben. Da ich auch mit sehr erfolgreichen Sparkassen zu tun habe, bei denen auch immer der Vertrieb eine besondere Wertschätzung erfährt, bin ich zutiefst davon überzeugt, dass genau an dieser Stelle ein wichtiger Energieträger liegt.
Fragen Sie sich als Führungskraft oder Entscheidungsträger eines Instituts doch selbst einmal, wie die „Employer Journey“ in Ihrem Institut wohl aussehen wird. Nach dem Gallup Engagement Index haben durchschnittlich 14% der Mitarbeiter in Deutschland bereits innerlich gekündigt. Wie hoch wird dieser Anteil wohl in Ihrer Filialorganisation sein?
Drei von vier Beschäftigten machen laut Gallup inzwischen Dienst nach Vorschrift. Wie hoch wird dieser Anteil wohl bei Ihnen sein?
Und auf dieser Ausgangsbasis wollen Sie eine „Customer Journey“-Philosophie aufsetzen, um am Ende Ihre Kunden mehrheitlich zu begeistern?
Begeistern Sie doch erst einmal Ihre Mitarbeiter im Filialvertrieb, denn auch wenn Sie selbst davon überzeugt sind, dass Leidenschaft ein echter Wettbewerbsvorteil sein kann, ist diese Erkenntnis wertlos, wenn Sie sie nicht an Ihre Mitarbeiter weitergeben können.
Was erwarten Sie von einem Privatkundenbetreuer, der 800 – 1.000 Kunden zu betreuen hat (was unmöglich zu leisten ist), der über zwanzig Einzelziele auf seiner Zielkarte zu erfüllen hat, von denen die Hälfte von Jahr zu Jahr ansteigt, und der nebenbei ständig das Gefühl hat, wegen seiner Wertpapierberatung mit einem Bein im Gefängnis zu stehen, ständig neue Prozesse und Verordnungen zu erfüllen hat und wegen der angekündigten Stellenstreichungen Angst um seinen Arbeitsplatz hat?
Hilmar Kopper hat sich vor vielen Jahren einmal den Fauxpas geleistet, zu sagen, dass man mindestens 20% höhere Erträge erzielen würde, wenn die Mitarbeiter immer lächeln würden. Man kann sich sogar vorstellen, dass es dazu eine entsprechende Anweisungs-Mail gegeben haben könnte. Und ich kenne einige Vertriebsvorstände, denen ich das auch zutrauen würde.
Nehmen wir aber einmal an, dass Kopper genau den oben beschriebenen Zusammenhang meinte, das sprichwörtliche Pferd nur falsch herum aufgezäumte, indem er das Ergebnis beschrieb, aber keine Ahnung hatte, wie er es realistisch erreichen könnte. Dann befände er sich in bester Gesellschaft, denn das Ergebnis zu beschreiben, das den Erfolg ermöglicht („Leidenschaft in der Kundenbetreuung“), ist intellektuell nicht sehr anspruchsvoll. Es gehört aber sehr viel Intelligenz dazu, den Weg und die Maßnahmen zu beschreiben, die aus der gegebenen Realität in eine verheißungsvolle Zukunft führen.
Viel zu Wenige sind offenbar im Besitz dieser Intelligenz, aber vielleicht setzen auch nur viel zu Wenige ihre Intelligenz für die richtigen Themen ein.
Dann bestünde noch Hoffnung.
Herzliche Grüße aus Brand
Hans-Dieter Krönung