#7 – Die Grenzen der Erfolgsmessung

Erfolgsmessung ist heute eine Selbstverständlichkeit. Zum einen sind wir in unserer Führungs-Philosophie heute darauf ausgerichtet, zu planen und die Zielerreichung auch kontinuierlich messen zu wollen, zum anderen liefern uns die Management-Informations-Systeme (MIS) eine Flut an Daten, die kreative Messmethoden erst möglich gemacht haben.

Es sind heute alle Arbeitsprozesse und Dienstleistungsprofile beschrieben und messbar, so dass wir es heute in allen größeren Unternehmen durchaus mit dem „gläsernen Mitarbeiter“ zu tun haben.

Erfolgsmessungen sind daher auch das Eldorado der Stäbe geworden. Vertriebsmanagement, Vertriebscontrolling, Produktivitätskontrolle und individuelle Leistungsmessungen werden von engagierten Stabsmitarbeitern entwickelt und verfeinert, bis auch die kleinste Begebenheit erfassbar und messbar gemacht worden ist.

Der Glaube an die Bedeutung der Leistungsmessung ist im Kern der Glaube an die Beherrschbarkeit von Organisationen. Wenn man alles weiß, und vor allem, wenn diejenigen, die gemessen werden, wissen, dass man es weiß, dann führt dies zu zielkonformem Verhalten, denkt man.

Ich datiere die Ursprünge dieser Führungs-Philosophie an den Beginn des vergangenen Jahrhunderts, als ein Herr namens Fredrick Taylor die geniale Idee hatte, seinem Chef, Henry Ford, zu helfen, Autos als Massenprodukt herzustellen. Dazu bediente er sich der Heerschar Arbeitsloser, die er kostengünstig einstellen konnte. Sein einziges Problem war, dass er diese Menschen, die nicht ausgebildet waren, nur so einsetzen konnte, dass sie Tätigkeiten verrichteten, die so einfach waren, dass eben keine Ausbildung, sondern nur ein Anlernen nötig war. Die geniale Idee des Herrn Taylor bestand nun darin, den Herstellungsprozess so weit zu zerteilen, dass er aus einer Vielzahl sehr einfacher Teil-Tätigkeiten bestand, die mehrheitlich von angelernten, daher billigen Arbeitskräften ausgeführt werden konnten.

So weit, so gut.

Die nächste Herausforderung bestand nun darin, und darüber wird wenig berichtet, dass diese angelernten Mitarbeiter natürlich auch keinen besonderen Ehrgeiz an den Tag legten, ihre eher stumpfsinnige Arbeit mit besonderem Tempo oder besonderem Qualitätsbewusstsein auszuführen. Einen Teil des Problems löste Taylor durch den Ur-Vater der heutigen Fließband-Fertigung, so dass das Tempo vorgegeben und die Einzelteile auch immer rechtzeitig zueinander kamen.

Den zweiten Teil des Problems löste Taylor durch relativ aufwendige Kontroll-Messungen, die später zu den sogenannten Leistungsmessungen weiterentwickelt wurden (Refa-Methodik), bei der die Leistungsvariable des individuellen Leistungsgrades des individuellen Arbeiters bewertet wurde, d.h. der Beurteiler musste einschätzen, wie viel Prozent seiner möglichen Leistung ein Arbeiter gegenwärtig abruft. Diese Schätzungen konnten sogar über 100 % hinausgehen, wenn der Messende den Eindruck hatte, der Gemessene arbeite derzeit über seinem dauerhaft durchhaltbaren Niveau.

Im Grunde hat sich seit den Zeiten Taylors sehr viel nicht getan, außer, dass sich die Instrumente und Methodiken der Leistungsmessung noch viel weiter entwickelt haben. Sehr beliebt sind nach wie vor die Analysen zur Erhöhung der Vertriebszeit in dezentralen Vertriebssystemen, also bspw. im Filialgeschäft von Retailbanken. Schon vor zwanzig Jahren habe ich an Projekten mitgewirkt, die zum Ziel hatten, die Netto-Vertriebszeit des Beraters zu erhöhen. Grund für diesen Projektansatz waren die Beschwerden der Berater, sie könnten die ihnen gesetzten Ziele nicht erreichen, weil sie zu viele administrative Tätigkeiten, vor allem in der Vor- und Nachbereitung von Verkaufsgesprächen sowie der Dokumentation, zu erledigen hätten.

Also begann man damit, den Anteil dieser administrativen Tätigkeiten zu messen (!), und analysierte die Möglichkeiten, diese Tätigkeiten entweder ganz abzuschaffen, zu reduzieren oder in anderen Organisationseinheiten zu verlegen. Wie nicht anders zu erwarten war, waren diese Projekte ein voller Erfolg, jedenfalls insoweit, als sie signifikante Reduzierungen der administrativen Tätigkeiten identifizierten. Nachdem die Maßnahmen umgesetzt waren, ging man von einer deutlichen Steigerung der Vertriebsleistung aus, weil ja rechnerisch jetzt deutlich mehr Zeit für den Vertrieb zur Verfügung stand bzw. hätte stehen sollen. Nach einigen Monaten führte man eine Nach-Messung durch und stellte fest, dass sich die Netto-Vertriebszeit anteilig nicht erhöht hatte. Die Analyse zeigte schnell, dass sich die Mitarbeiter wieder mit neuen administrativen Tätigkeiten beschäftigten, und zwar, weil sie zum einen neue Aufgaben aus der Administration bekommen hatten, zum anderen aber auch, weil sie sich neue administrativen Aufgaben gesucht hatten, um nicht vertrieblich arbeiten zu müssen.

Vor wenigen Monaten erzählte mir ein junger, engagierter Leiter des Vertriebsmanagements einer großen Bank, dass man gerade dabei sei, die Vertriebsleistung der „Mannschaft“ deutlich anzuheben, weil man festgestellt habe, dass die Berater vor Ort in den Filialen mit einer Fülle von Hindernissen konfrontiert seien, die sie davon abhielten, vertrieblich tätig zu sein. Unter anderem habe man gemessen (!), wie hoch allein der Zeitanteil für die mehrmals täglich notwendigen Wege zum Drucker sei. Da diese Anteile als signifikant eingestuft worden seien, hätte man nunmehr die Drucker umgestellt und einen deutlich geringeren Aufwand für diese Tätigkeit erreicht.

Multipliziert mit dem daraus resultierenden zu erwartenden Mehrertrag pro Berater (durch erhöhte Vertriebszeit) würden sich auch die Aufwendungen für den externen Berater sowie den internen Aufwand mehr als rechnen.

Sie können sich denken, dass ich geschmunzelt habe und an die Konkurrenz gedacht habe, die froh sein  kann, dass sich ein potenter Wettbewerber mit solchen Dingen befasst. Ich habe dem jungen Mann daher auch nur die Frage gestellt, wie denn der Faktor der individuellen Laufgeschwindigkeit der Berater in die Berechnungen eingeflossen sei, worauf er mir antwortete, dass man hierbei von einer Standard-Geschwindigkeit ausgegangen sei.

Die Faszination des Messens von Leistung zum Zwecke der Leistungserhöhung ist seit Taylor ungebrochen. Sie hat in den späten 80- und den frühen 90er Jahren mit dem Business Reengineering eine vorübergehende Euphorie erfahren, die allerdings wegen fehlender nachhaltiger Erfolge wieder deutlich abgeebbt ist. Überall dort, wo der menschliche Faktor einen erheblichen Beitrag zur Wertschöpfung erbringt, scheinen mir die mechanisch ausgerichteten Führungs-Philosophien, deren einer Teil der Glaube an die Beeinflussung durch Messung ist, geradezu systematisch zu versagen.

Und obwohl ich konstatieren muss, dass der Drang zur Messung der individuellen Leistung nach wie vor ungebrochen ist, stelle ich genauso eindeutig fest, dass nach meiner Einschätzung keine Korrelation zwischen dem Erfolg einer Organisation und dem Grad an Transparenz über die Leistung der einzelnen Mitarbeiter besteht.

Erfolgsmessung kommt dort an ihre Grenzen, wo sich die Frage nach dem Zweck der Messung an sich stellt. Erfolgsmessung kann unterstützenden Charakter haben, indem man Verbesserungspotenziale identifiziert, und sie kann verheerenden Einfluss auf die Unternehmenskultur haben, weil sie als Instrument der Bloßstellung dient.

Das ist auch der Grund, warum viele Personalvertretungen Probleme mit diesen Instrumenten haben, und dies zu Recht, wo die „Bestrafung“ von Individuen der wesentliche Zweck der Messung ist. Allerdings wird es seitens der Personalvertretungen oft übertrieben, wenn sie die vollkommene Intransparenz über Leistungen durchsetzen. Ich denke, die Messung auf Team-Ebene, also bspw. einer Filiale, als größter Detailtiefe ist die vernünftige Dimension.

Auch dort, wo Erfolgsmessung nicht in dem oben beschriebenen Sinne zweckentfremdet wird, tauchen Probleme bei der Umsetzung der Erkenntnisse der Messung auf. Sehr weit verbreitet ist ja die zentrale Impulssetzung im Vertrieb durch sogenannte „Kampagnen“, die in der Regel zentral konzipiert werden und dann durch den Vertrieb umzusetzen sind.

Ich weiß seit vielen Jahren, dass die Kampagnen-Manager eine Zielerreichung von ca. 30 % bereits als Erfolg verbuchen, d.h. dass sie davon ausgehen, nur etwa ein Drittel des ermittelten, möglichen Erfolgspotenziales zu erreichen. Spricht man mit den Vertriebsverantwortlichen und fragt nach der Verantwortung für dieses unbefriedigende Ergebnis, stellt man schnell fest, dass dies unklar ist, denn der Vertrieb macht die Konzeption der Kampagne sowie deren Vorbereitung und Unterstützung dafür verantwortlich, während das Vertriebsmanagement die Schuld beim mangelnden Engagement des Vertriebes sieht. Und das Wichtigste dabei ist: Beide haben recht.

Was hilft uns die perfekte Erfolgsmessung, wenn nicht klar ist, wer Verantwortung für Erfolge und, noch wichtiger, für Misserfolge trägt?

Erfolgsmessung hat aus sich heraus eigenständig überhaupt keinen Wert an sich, denn die Tatsache, dass mit den erzeugten Informationen sowohl positiv als auch negativ auf die Organisation eingewirkt werden kann, beweist, dass es bei der Nutzenstiftung auf andere Faktoren ankommt.

Der Zweck der Messung von Erfolgen und Leistungen muss in einer Organisation transparent und akzeptiert sein. Sind Kultur und Führungs-Philosophie nicht adäquat verankert, richtet die Erfolgsmessung mehr Schaden als Nutzen an, weil sie als Instrument der Verfolgung von Minderleistung verstanden wird.

Wenn die Erfolgsmessung Impulse zur Verbesserung setzen soll, muss auch die Verantwortungsstruktur eindeutig sein, weil sonst nur das „Schwarzer Peter-Spiel“ gespielt wird.

In Organisationen, in denen die Mitarbeiter wesentlichen Einfluss auf die Ausgestaltung der Erfolgsfaktoren haben, akzeptieren sie auch in der Regel die Messung des Erfolges, weil klar ist, dass es ihr Erfolg oder Misserfolg ist. Kampagnen, die „vom Himmel fallen“, erzeugen nur Widerstand und sind auch der Grund für die empirisch belegbaren, häufigen Misserfolge. Erfolgsmessungen müssen sich auf akzeptierte Messgrößen beziehen, die von den Betroffenen auch nachvollziehbar und gestaltbar sind. Erfolgsmessungen für eine Filiale, die barwertig Erfolge aus dem Zinsgeschäft als Messgröße ausweist, muss fehlschlagen, wenn der Einfluss des allgemeinen, von der Filiale nicht beeinflussbaren, Zinsniveaus maßgebende Bedeutung für die Messergebnisse hat.

„Schlagzahlen“ bspw. für die Anzahl der durchzuführenden Verkaufsgespräche pro Berater, werden nur dann akzeptiert, wenn sie zur Motivation von Teams, sich gegenseitig zu helfen, eingesetzt werden, und nicht zur Bloßstellung von individuellen Minderleistern.

Leider erlebe ich sehr häufig, dass seitens der Vorstände das Instrument der Erfolgsmessung als Ersatz für eine mobilisierende Führungs-Philosophie missverstanden wird. Natürlich ist es praktisch und auch einfacher, das MIS zu nutzen als sich persönlich mit den Führungskräften und Mitarbeitern auseinanderzusetzen. Und tatsächlich ist es in sehr großen Unternehmen oft sehr schwierig, direkten Kontakt zu finden; dennoch gelingt es meistens, wenn es wirklich gewollt ist.

Das Misstrauen gegenüber dem einzelnen Mitarbeiter ist oft der Treiber für den Ausbau von Erfolgsmessungs-Sytemen, getreu dem ebenso problematischen Sprichwort: „Der Wunsch nach einem Sohn ist der Vater vieler Töchter“.

Auch das ausgefeilteste Erfolgsmessungs-System kann keine positive Vertriebskultur schaffen, in der Mitarbeiter begeistert sind, sich für das Unternehmen einsetzen und sich selbst Ziele definieren, an denen sie selbstverständlich auch gemessen werden wollen, weil sie zeigen wollen, dass es am Ende ihr Erfolg war.

MIS und Mobilisierung sind Ausdruck vollkommen verschiedener Führungs-Philosophien, wenn sie als Rückgrat der Unternehmens-Philosophie genutzt werden.

Seien Sie sich bewusst, wann Sie die Grenze zur Mechanik überschreiten und wann sich ein Instrument mit begrenzter Wirkung zu verselbständigen droht. Zu seinem 150. Todestag sei Schopenhauer zitiert, der der allgemeinen Begeisterung über die Erkenntnis des „Ichs“ in seiner Zeit mahnend die Botschaft der „Utopie der Beherrschbarkeit“ entgegenhielt.

Ich wünsche Ihnen den allzeit ungetrübten Blick auf das Wesentliche.

Herzliche Grüße aus Brand

Ihr

Hans-Dieter Krönung