„Der Wille öffnet die Tür zum Erfolg!“
(Louis Pasteur)
Es ist erfreulich, dass in Zeiten des globalen Artensterbens auch einmal davon berichtet werden kann, dass eine neue Spezies entstanden ist, der „Verbund-Lemming“.
Bevor ich detailliert beschreiben kann, um welche spezifische Art es sich beim „Verbund-Lemming“ handelt, muss dem Leser die Besonderheit des Lebensraums, aus dem diese neue Art stammt, dargestellt und erläutert werden, denn es gibt sehr viele Meinungsbildner und Entscheidungsträger, die das Wesen dieses Lebensraums, den man „Verbundorganisation“ nennt, nicht verstehen, was leider auch mitunter auf Vertreter dieser Organisation zutrifft.
Zunächst einmal ist eine Verbundorganisation eine „umgekehrte Pyramide“, d.h. das, was oben ist, ist eigentlich unten und umgekehrt.
So ist beispielsweise bei der Sparkassen-Organisation in Deutschland der DSGV (Deutscher Sparkassen- und Giro-Verband) ein eingetragener Verein, der von den Regionalverbänden, die z.T. Bestandteil der jeweiligen Landesverfassungen sind, getragen wird. Das heißt, dass hierarchisch sozusagen von unten nach oben beauftragt wird, von oben nach unten (möglicherweise) umgesetzt wird.
In einem Konzern dagegen wird oben entschieden und unten umgesetzt, oder auch nicht.
Die „umgekehrte Pyramide“, die im Übrigen auch dem föderalen Prinzip folgt, das Deutschland auch politisch prägt (und anders macht, verglichen mit den meisten anderen europäischen Staaten), schafft damit auch ein ganz bestimmtes Rollenverständnis. Während in den Dachorganisationen (z.B. DSGV) Menschen arbeiten, deren Interesse darin bestehen muss, möglichst viele Dinge möglichst einheitlich zu gestalten, wie bspw. IT oder Abwicklungsprozesse, um möglichst effizient produzieren zu können, agieren die einzelnen Mitglieder der Organisation (z.B. Sparkassen) als dezentrale Unternehmer, d.h. sie adaptieren zentrale Vorschläge für ihren eigenen Markt, setzen zentrale Empfehlungen um oder aber auch nicht, wenn sie glauben, dass ihnen diese Empfehlungen nichts nutzen.
Man kann durchaus unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob ein solches System leistungsfähig ist oder nicht. Kritiker bemängeln die System-immanente Behäbigkeit bei der Entscheidungsfindung, denn alle wesentlichen Richtungsentscheidungen bedürfen komplexer Abstimmungsprozesse, und die zu große Heterogenität der Leistungsprofile, d.h. durch die als zu groß empfundene Unterschiedlichkeit der angebotenen oder verwendeten Lösungen, z.B. in jeder einzelnen Sparkasse, gingen Effizienzpotenziale verloren.
Andererseits haben diese Verbundorganisationen gerade durch ihre Dezentralität auch große Vorteile, denn eine Organisation, in der „dezentrale Unternehmer“ für ihre jeweiligen Märkte spezifische Lösungen schaffen bzw. die auf übergreifende Veränderungen (z.B. Niedrigzinsphase) schnell reagieren können, hat einen nicht zu unterschätzenden Wettbewerbsvorteil.
Wenn man also so will, besteht die Quelle der Leistungsfähigkeit einer Verbundorganisation in dem institutionalisierten Spannungsverhältnis zwischen zentralen Impulsen (z.B. Standardisierung) und dezentraler Adaption.
Dies wiederum setzt zwei Eigenschaften voraus, die in einer Verbundorganisation lebendig gehalten werden müssen: „Zentrale Fachkompetenz“ und „Dezentrales Unternehmertum“.
Alle Verbundorganisationen haben in den vergangenen 20 Jahren erhebliche Veränderungen im gegenseitigen Rollenverständnis zwischen „Zentraler Fachkompetenz“ und „Dezentralem Unternehmertum“ erlebt.
„Früher“ wurde die Verbundarbeit durch die dezentralen Unternehmer dominiert, d.h. die Heterogenitäten auf allen Ebenen des Geschäftsmodells waren sehr viel größer als heute. Man leistete sich seine eigenen IT-Lösungen, eigene Prozessgestaltungen und Produktvariationen. Entsprechend groß waren die Frustrationen auf der Zentralebene.
Dies hat sich grundlegend geändert.
„Heute“ verzichten viele dezentrale Unternehmer auf eigene Lösungen und verwenden zentral vorgegebene Standardlösungen. Man mag das als Einsicht bezeichnen oder aber auch als Zwang, denn angesichts der rückläufigen Ergebnisentwicklungen fehlen vielen eigenen Ideen schlicht die Mittel, sie auch umzusetzen.
Nun taucht aber ein anderes Problem auf, das nicht unterschätzt werden darf, und jetzt kommt auch der „Verbund-Lemming“ ins Gespräch.
Angesichts der fortschreitenden Dynamik und Komplexität der Veränderungen sind viele „dezentrale Unternehmer“ überfordert, ihre wichtige Funktion als Regional-zuständige, eigenständig entscheidende Unternehmer wahrzunehmen. Die Fülle der Veränderungen und Einflussfaktoren hat sich ebenso vervielfacht wie die Risiken, wirtschaftlich und, oft noch wichtiger, regulatorisch.
Daher beobachte ich immer mehr dezentrale Entscheidungsträger, die sich bedingungslos den Zentralkonzepten unterwerfen, was natürlich den (vermeintlichen) Vorteil mit sich bringt, Verantwortung für Ergebnisse weiterzugeben, denn das, was alle machen, kann ja nicht verkehrt sein.
Dies wiederum löst bei den zentralen Konzeptentwicklern Stress aus, denn die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Konzepte steigen damit massiv an, wenn es sich nicht mehr nur um gute Anregungen, sondern auch um alltagstaugliche Erfolgskonzepte handeln soll.
Und so sehen sich nicht selten die Vertreter der Zentralebene einer als ungerecht empfundenen Kritik ausgesetzt, dass ihre Konzepte nicht allen Besonderheiten und Unterschiedlichkeiten in den verschiedenen Märkten Rechnung tragen.
Und so kam es zur Entwicklung des „Verbund-Lemmings“, d.h. der Form des degenerierten dezentralen Unternehmers, der in Ermangelung eigener Strategien für seinen eigenen Regionalmarkt alles übernimmt, was ihm zentral angeboten wird, damit aber auch die Verantwortung für Erfolg oder Misserfolg an die Zentralebene zurückgibt. Man erkennt den „Verbund-Lemming“ vor allem an der Eifrigkeit, mit der er immer wieder Verbesserungen der Zentralkonzepte anmahnt, deren Umsetzbarkeit kritisiert oder die Geschwindigkeit der Konzeptentwicklung bemängelt.
Gegenüber den eigenen Gremien und Mitarbeitern argumentiert er bei ausbleibenden Erfolgen mit den schwierigen Rahmenbedingungen sowie den Unzulänglichkeiten in der Gesamtorganisation und parliert mit großer Geste über die großen Strukturfragen in Politik und Wirtschaft. Mit anderen Worten: Er bemüht sich mit großer Energie, jede unternehmerische Verantwortung von sich zu schieben.
Gibt es für diesen Grundkonflikt zwischen zentraler und dezentraler Rolle eine logische Lösung?
Ja, aber das setzt voraus, dass sich alle Beteiligten auf ihre Rollen besinnen. Zentrale Konzepte, die sich auf Bestandteile des Geschäftsmodells beziehen, die keine wettbewerbliche Differenzierung im Markt mit sich bringen, die also primär unter Effizienzgesichtspunkten betrieben werden, sollten so einheitlich wie möglich umgesetzt werden. Dies betrifft alle wesentlichen Prozess- und IT-Fragen, in weiten Teilen auch Produktfragen, weil diese zunehmend technisch unterlegt sein müssen (s. Digitalisierung).
Für eine klassische Verbundbank bedeutet dies, dass ihr Spielraum, sich eigenständig zu positionieren und ihre Spezifika auszuleben, primär in der Marktbearbeitung liegen wird. Unternehmerisches Agieren wird sich künftig noch stärker als heute auf die unmittelbare Bearbeitung des jeweiligen Regionalmarktes beziehen, weil alle anderen Bereiche der Bank durch zentrale IT-Lösungen und die Regulatorik weitgehend vorbestimmt sein werden. Der oder die „Vorstandsvorsitzende der Zukunft“ wird daher auch der erste Vertriebsexperte seiner Bank sein, weil unternehmerisches Handeln „nur“ noch im Vertrieb gestalten und wirken kann.
Umgekehrt bedeutet dies, dass Zentralkonzepte, die den Anspruch haben, in den Vertriebsfunktionen Hilfestellung zu geben, niemals den Anspruch der Standardisierung haben dürfen. Es ist die große Stärke der Verbünde, die Heterogenität der Märkte optimal abbilden zu können, indem man sich auf diese Spezifika einstellt, abhängig davon, ob es sich
um einen Flächenmarkt mit ländlichen Strukturen oder eine Großstadt handelt, die man optimal versorgen will.
Es sollte den Verbünden eine Warnung sein, dass sich die Großbanken allen Investitionen und Innovationen zum Trotz, nicht haben entscheidend durchsetzen können, wenn es um die Gewinnung von Marktanteilen geht; ganz im Gegenteil.
Der dezentrale Unternehmer, der seinen Markt (Kunden und Nicht-Kunden) kennt und sich auf diesen Markt konzentriert, ist allen zentralen Konzepten überlegen, seien sie auch noch so intelligent konzipiert.
Degeneriert der „dezentrale Unternehmer“ aber zum „Verbund-Lemming“, wird dieser zentrale Wettbewerbsvorteil der Verbünde ausgehöhlt.
Der Idealtypus des „dezentralen Unternehmers“ ist derjenige, der sich in allen Backoffice-, Steuerungs- und Prozessthemen nach Möglichkeit an Zentralkonzepten ausrichtet, weil er erkannt hat, dass er in jedem Fall zu klein ist, um dies eigenständig besser hinzubekommen.
Er ist aber auch derjenige kritische Gesprächspartner, der allen Ideen zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit im Vertrieb offen gegenübersteht, sich aber vorbehält, zentral entwickelte Ideen für das eigene Institut anzunehmen oder aber auch nicht (oder in abgewandelter Form). Man mag dieses Verhalten seitens der Zentralebene für illoyal bezeichnen; ich sehe das komplett anders.
Die „DNA“ des „dezentralen Unternehmers“ ist seine Eigenverantwortung für die Marktbearbeitung in seinem Marktgebiet; diese ist unteilbar und sollte auch nicht in Frage gestellt werden. Im Gegenteil: Widerspruch oder marktspezifische Adaption sind ein Wesenskern der Verbundarbeit und sollten auch von der Zentralebene als Ansporn verstanden werden, immer noch bessere Unterstützungsideen zu entwickeln.
Meine Sorge gilt der Verbreitung der neuen Spezies des „Verbund-Lemmings“. Es mag auf den ersten Blick seitens der zentral Verantwortlichen angenehm erscheinen, wenn „die Herde“ den zentralen Konzepten bedingungslos folgt und man mag das sogar als Qualitätsnachweis für die entsprechenden Konzepte missverstehen; in Wirklichkeit sind es Frühindikatoren einer fundamentalen Identitätskrise innerhalb der Verbünde.
Der heute schon zu beobachtende Mangel an dezentralen Unternehmern ist die größte Gefahr für die Überlebensfähigkeit der Verbundorganisationen. Man wäre gut beraten, hier zu investieren und das Rollenbild zu präzisieren.
Vor allem sollte man sich nicht an den putzigen Tierchen ergötzen, die einem vertraulich aus der Hand fressen; für das natürliche Gleichgewicht braucht es auch den einsamen Wolf.
Herzliche Grüße aus Brand
Hans-Dieter Krönung