#86 – Purpose, Purpose über alles – oder: Wie man auch mit „ollen Kamellen“ Geld verdienen kann

„Den Menschen zeichnet der Wille zum Sinn aus!“

(Viktor Frankl)

Was wären die großen Unternehmensberatungs-Konzerne ohne die Modewellen im Management? Erinnern Sie sich noch daran, wie wir zu tausenden zu den „Business Reengineering“-Gurus gepilgert sind, um dem „heiligen Gral“ des Managements, der reibungslos funktionierenden Organisation, näher zu kommen?

In den letzten Jahren wurde dann die „agile Organisation“ proklamiert, ein anderer Begriff für eine reibungslos funktionierende Organisation.

Ich habe mich bereits an anderer Stelle über diese Instrumenten-Gläubigkeit vieler Top-Manager lustig gemacht und frage mich weiterhin, was sie immer wieder auf diesen „alten Wein in neuen Schläuchen“ hereinfallen lässt.

Denn rein logisch betrachtet kann man bezüglich der Reengineering- und Agilitäts-Wellen doch nur feststellen, dass sie offensichtlich schnell ihren Zauber verloren haben, denn nach wenigen Jahren spricht man nicht mehr davon (oder kennen Sie jemanden, der Ihnen vom „Business Process Reengineering“ vorschwärmt?). Oder waren diese Konzepte etwa so erfolgreich, dass nunmehr alle Unternehmen, die einem dieser Lösungsansätze gefolgt sind, reibungslos funktionierende Organisationen sind?

Meine Beobachtung ist, dass die Agilitäts-Welle langsam wieder im Abebben begriffen ist, was möglicherweise auch daran liegt, dass die Unternehmensberatungs-Konzerne nun alle potenten Kunden abgegrast haben und nun wieder etwas Neues brauchen.

Gott sei Dank naht mit dem „Purpose“ die Rettung aus der Misere. Und wieder gibt es einen plausiblen Grund, sich mit etwas „Neuem“ zu beschäftigen, nämlich „Purpose“, denn „Purpose“ heißt in der Management-Sprache in etwa „Sinnstiftung“ und was liegt näher in einer Zeit, wo alle Menschen den Sinn ihres Lebens suchen, als diesen auch als „entscheidendes“ Lebenselixier für Unternehmen zu vermarkten.

Um sogleich jedem Missverständnis vorzubeugen: Ich bin ein großer Anhänger von Sinnstiftung. Schon vor über achtzig Jahren entwickelte der Psychoanalytiker Viktor Frankl sein Konzept der Existenzanalyse, mit der er große Erfolge bei der Therapie der Traumata etwa von Kriegerwitwen hatte. Außerdem war er längere Zeit in einem KZ interniert und beobachtete, wie unterschiedlich Menschen mit dem unvorstellbaren Leid umgingen, das ihnen dort zugemutet wurde.

Seine fundamentale Erkenntnis war, dass Menschen, die fest an einen Sinn in ihrem Leben glaubten, sei es religiöser oder säkularer Art, deutlich besser mit Schicksalsschlägen und Grausamkeiten umgehen konnten als Menschen, die diesen „Sinn“ ihres Lebens nicht hatten. 

Sinnstiftung für ein Unternehmen zu definieren, ist also eine äußerst lobenswerte Initiative, denn Unternehmen sind organische Wesen, weil sie nur durch die Menschen, die in ihnen tätig sind, existieren. Auch das intelligenteste Geschäftsmodell, auf dem intellektuellen Reißbrett entworfen, taugt nichts, wenn es nicht Menschen gibt, die es mit Leben erfüllen.

Hinzu kommt eine Binsenweisheit, dass nämlich Menschen, die sich mit ihrer Tätigkeit bzw. ihrem Unternehmen identifizieren, auch deutlich produktiver sind, weil ihnen wichtig ist, was sie machen.

Da ich häufig und seit vielen Jahren selbst sogenannte „Leitbilder“ für Kunden entwickle, weiß ich auch um den intellektuellen Anspruch, den es bei diesen „weichen“ Themen zu erfüllen gilt. Es muss emotional ansprechen, aber ohne den Bezug zur Realität zu verlieren. Es muss prinzipiell alle MitarbeiterInnen ansprechen, darf aber nicht zu abstrakt formuliert sein. Und es muss eine Ambition ausdrücken, ohne in Träumereien zu schwelgen.

Viele Führungsteams von Organisationen, gerade im Finanzdienstleistungssektor, sind nicht trainiert, diese besondere Form der Komplexität zu bewältigen und neigen daher dazu, es sich einfach zu machen und eine Standardlösung zu wählen, die ihnen von externer Seite angeboten wird.

Hinzu kommt, dass ein gutes Leitbild über lange Zeit, mitunter über Manager-Generationen, andauern können sollte, weil es den wahren Sinn der Existenz des Unternehmens abbildet, und ein solcher Sinn ändert sich ja nicht ständig. Es bedarf also einer gewissen Gründlichkeit im Denken, einer Tiefe, denn es ist auch das Ziel eines Leitbilds, den Unterschied zu anderen Wettbewerbern auszudrücken, also die wettbewerbliche Differenzierung.

Ein wahrhaft wirksames Leitbild ist aber auch eine Frage der Identifikation der Führung mit den Inhalten und Aussagen des Leitbilds. Man muss, wie Herrhausen es einmal ausdrückte, „das sein, was man tut“.

Ich befürchte nun, dass mit dem Erwachen des Interesses der bekannten Unternehmensberatungskonzerne, bei denen sehr viele junge „Auszubildende“ unter dem Schutzschild der starken Marke als teure Berater auf die Kunden losgelassen werden, stereotype Lösungsmuster für Leitbilder, für den „Purpose“, entstehen, die von Managern gekauft werden, die sich mit der Sinnstiftung des eigenen Unternehmens emotional nicht selbst befassen wollen („Placebo-Management“).

Und es kommt eine wichtige Botschaft hinzu. Einen „Purpose“ zu erarbeiten, bedeutet noch lange nicht, ihn auch umzusetzen und seine Botschaft zu leben.

Mit anderen Worten: Zu wissen, wie man wahrgenommen werden möchte bzw. was man sein möchte, ist nicht schon gleichzusetzen mit Erfolg, weil dazwischen noch die Herausforderung der Mobilisierung der Organisation steht.

Leitbilder dürfen daher nicht, wie schon häufig mit sogenannten Führungs-Grundsätzen geschehen, zu „Schrank-Ware“ werden, an die man sich nach wenigen Jahren nicht mehr erinnert.

Ein Leitbild umzusetzen, den Sinn einer Organisation als Daseinszweck und Wettbewerbs-Differenzierung auszuformulieren und Realität werden zu lassen, ist wie der Beginn einer langen Reise, kein Kurztrip.

Für die MitarbeiterInnen eines Unternehmens, die ja die Hauptadressaten jedes Leitbilds sind, muss der Inhalt eines Leitbilds, also der „Purpose“, konkret im Alltagsgeschäft erlebbar sein. Dazu bedarf es einer Kommunikationsplanung, einer Vorgehensplanung und eines langen Atems. Es ist ein wenig so, wie das Bild des Missionars, der mit dem Kreuz auf dem Rücken in den Urwald zieht, um die Eingeborenen zu bekehren.

Das Bild des Missionars steht sinnbildlich für die Essenz eines guten Leitbilds. Es geht nicht um Alibi, nicht um Instrumente oder um Renditeplanung; es geht um eine Herzensangelegenheit bzw. um das Bemühen, die eigene Herzensangelegenheit zur Herzensangelegenheit vieler im Unternehmen zu machen.

Eine weitere Hürde, die es zu nehmen gilt, wenn man ein gutes Leitbild erarbeitet, ist das Vermeiden von intellektuellen „Pappkameraden“.

Einen „Pappkameraden“ erstellt man, indem man dem Wettbewerb oberflächlich bestimmte Attribute zuweist bzw. ihm diese abspricht, obwohl jeder halbwegs Informierte weiß, dass dem nicht so ist, wie man es proklamiert.

Ein gutes Beispiel dafür ist der Anspruch vieler Banken und Sparkassen, sie seien „Qualitätsführer“. Auf entsprechende Nachfrage erhält man dann die Antwort, man habe schließlich einen gut durchstrukturierten und technisch unterstützten Beratungsprozess für Bankkunden sowie bestens ausgebildete Mitarbeiter.

Weist man darauf hin, dass auch die Wettbewerber über einen solchen Prozess verfügen und dass deren Mitarbeiter gleichfalls verstünden, worüber sie reden, fällt diese Behauptung schnell in sich zusammen. Schlimmer noch: Mitarbeitende, die mit einem solchen „Pappkameraden“ konfrontiert werden, erkennen schnell, dass es sich nur um heiße Luft handelt. Welche Wirkung kann ein auf einem „Pappkameraden“ aufgebautes Leitbild wohl entwickeln?

Es sollte also klar sein, dass die Erwartung, die nächste Welle der Beratungsthemen könne auf dem „Purpose“ aufbauen, nicht bedeutet, dass es sich um ein irrelevantes Thema handeln würde.

Meine Erwartung ist vielmehr, dass der häufig gegebene Anlass, über den Sinn des eigenen Unternehmens nachzudenken, zu einer „Pappkameraden“-Konjunktur führt, die dem eigentlichen Kern des Themas Leitbild mehr schadet als nutzt.

Wenn die „Purpose“-Welle verebbt sein wird, werden viele Top-Manager, wie so oft schon, ernüchtert Bilanz ziehen und sich sagen, dass man mit Sinnstiftung nichts mehr am Hut haben wolle.

Genau das wäre aber fatal, denn in unserer durchtechnokratisierten Welt, wo viele Manager fest daran glauben, dass Technik und Prozess alles, der Mensch aber nur Störfaktor sei, braucht es dringend mehr Bewusstsein für das, um das es wirklich geht: Verstehen, dass ein Unternehmen ein lebender Organismus ist, in dem Menschen den Unterschied machen.

Es ist ein Alarmzeichen, dass sich immer weniger ArbeitnehmerInnen mit ihrem Unternehmen identifizieren und ihre Energie auf ihren Freizeitbereich fokussieren.

Auch eine Volksbank, eine Raiffeisenbank oder eine Sparkasse sind individuell verschiedene Unternehmen für z.T. höchst unterschiedliche Marktregionen. Darin liegt ihr eigentlicher Wettbewerbsvorteil und ihre Existenzberechtigung.

In wie vielen dieser Banken ist die Sinnstiftung wirklich ausgearbeitet und den Mitarbeitenden bewusst? Glaubt das Management in diesen Banken daran, die Motivation der Mitarbeiten-den sei ein der Prozesseffizienz gegenüber zu vernachlässigender Erfolgsfaktor?

Die „Purpose“-Welle im deutschsprachigen Finanzdienstleistungssektor wird also kommen. Wir werden überschüttet werden mit Erkenntnissen, wie elementar dieses Thema ist und welche Standardlösungen dafür bereits gebaut worden sind.

Und vielleicht erinnern Sie sich dann an diesen „Standpunkt“, nehmen ihn sich noch einmal zu Hand und überprüfen meine Thesen.

Ich wünsche Ihnen vor allem, dass Sie von „Pappkameraden“ verschont bleiben und sich nicht von unerfahrenen Beratungs-Novizen mithilfe von Schablonenlösungen am sprichwörtlichen Nasenring durch die Manege ziehen lassen.

Denken Sie stattdessen nach, gründlich und eigenverantwortlich. Es könnte Spaß machen und sich lohnen.    

Herzliche Grüße aus Brand

Hans-Dieter Krönung