#87 – Knusper, knusper, kneischen, wer möchte in mein Häuschen? – oder: Wie bekommen wir mehr Hänsels und Gretels?

Standpunkt 87

„Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“

(Antwort von Hänsel und Gretel auf die Nachfrage der Hexe, wer sie denn in ihrem Häuschen störe)

Die Welt der Finanzindustrie ist im Wandel. Das ist kein Märchen, sondern z.T. bittere Realität. Regulatorik und Verbraucherschützer setzen den Banken zu, die Digitalisierung verändert das Kundenverhalten und zu allem Überfluss haben Banken in der öffentlichen Wahrnehmung nicht den besten Stand. Das alles ist nicht neu, keine Erkenntnis, aber schmerzhafte Realität.

Der eigentliche Kern dieser bereits seit Jahren anhaltenden, grundlegenden Veränderung ist, dass sich die Finanzbranche nunmehr fast vollständig marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen stellen muss. Und so bitter es für die derzeitige Generation der Bankmanager ist, so klar ist aber auch, dass der Weg in die Gesetze des Marktes auch mit „Rumpeleien“ verbunden ist, die wir Regulatorik nennen. Denn viel zu lange haben vorhergehende Managergenerationen die Sondersituation der Banken als Mediator der Schlüsselprozesse in der Wirtschaft ausgenutzt, um schnelle und überzogene Profite zu machen. Man muss daran erinnern, dass es die „Gier des vagabundierenden Kapitals“ war, die die große Finanzkrise wesentlich befördert, wenn nicht sogar ausgelöst hat. Und die Gesellschaft, auch die Politik, hat ein gutes Gedächtnis bezüglich der vielen Skandale, die sich diese Branche geleistet hat.

Psychologisch und ganzheitlich betrachtet handelte es sich (und handelt sich noch immer) bei vielen dieser Verfehlungen um eine Art von Fluchtreflexen, d.h. anstatt sich der Veränderung der Rahmenbedingungen zu stellen, suchte man in Grau- und Grenzbereichen nach einfachen Lösungen, um Erträge zu sichern bzw. zu generieren.

Die grundlegende Veränderung hin zu marktwirtschaftlichen Gesetzen, die ich bereits angesprochen habe, bedeutet im Kern, dass ein Finanzinstitut, wie jedes andere legale Unternehmen auch, aus seinen Kundenerträgen heraus überleben und damit auch Risiken und Investitionen abdecken können muss. Bei den meisten Banken ist dies (noch) nicht der Fall, d.h. dass zusätzliche Erträge aus spekulativem Geschäft hinzukommen müssen, um die erforderliche Rentabilität sicherzustellen.

In jeder Branche gilt die Grundregel, dass nur überleben kann, wer gut genug arbeitet, um aus seinen Umsätzen seine Kostenstrukturen, Investitionen und Risiken abdecken zu können.

Und in fast jeder Branche gehört zur Risikoabdeckung mittlerweile dazu, dass man sich auf gesellschaftliche Impulse einstellen muss, die es früher nicht gab, wie Umweltschutz, Gleichberechtigung, internationale Rechtsprechung etc. Auch in dieser Hinsicht ist die Finanzbranche kein Sonderfall, zumal es müßig ist, sich über Dinge aufzuregen, die man nicht verändern kann.

Bei allen diesen „Rumpeleien“, die eine ganze Menge Geräusche erzeugen, droht ein ganz elementares Problem übersehen zu werden, das tatsächlich für die Finanzbranche in besonderer Weise relevant ist, nämlich der Verlust von qualifiziertem Nachwuchs-Personal.

Führt man sich vor Augen, dass derzeit im Durchschnitt 8-10 % der Stellen im Filialvertrieb unbesetzt sind, dass sich die meisten Institute schwertun, die gewünschte Anzahl und Qualität bei Auszubildenden zusammen zu bekommen und dass es steigende Fluktuations-Zahlen aus der Branche heraus gibt, dann muss man sich fragen, wie die überall erarbeiteten Strategien der Verstärkung anspruchsvoller Finanzberatung umgesetzt werden sollen.

Es mag eine Ursache für diese Gefahr darin liegen, dass die wesentlichen Weichensteller in der Finanzbranche „alte, weiße Männer“ sind, um einen provokativen Terminus aus der Politik zu verwenden.

Damit meine ich, dass in den Schlüsselpositionen der Branche sehr häufig Menschen sitzen, die noch in den „goldenen Zeiten“ vor der Finanzkrise ausgebildet und sozialisiert worden sind. Diese Generation hat zwar, wie ich aus vielen Gesprächen weiß, das Problem der grundlegenden Veränderung der Finanzindustrie verstanden, versucht aber jetzt, mit dem Verständnis der Vor-Krisenzeit die Herausforderung zu bewältigen, und dieses Verständnis ist ein technisch-mechanisches.

Es ist ein psychologisch umfassend untersuchtes und bestätigtes Phänomen, dass Menschen, die vor ein zunächst nicht lösbares Problem gestellt werden, entweder weniger oder mehr von dem tun, was sie immer getan haben. Das heißt übersetzt, dass ein Manager, der gelernt hat, dass es für jedes Problem eine technische oder eine prozessuale Lösung gibt, auch jetzt versuchen wird, mit neuen Technologien und verbesserten Prozessen die aktuellen Herausforderungen zu lösen, getreu dem Motto: „Wenn Du einen Hammer in der Hand hast, sieht alles aus wie ein Nagel“.

Das beginnt in der Branche damit, dass man in der Digitalisierung des Bankgeschäfts die Kern-Lösung aller Probleme sieht und alles dafür tut, möglichst schnell und umfassend alle Prozesse, vom ersten Kundenkontakt bis zur Abwicklung im Service, zu digitalisieren.

Nach dieser Grundüberzeugung wird diejenige Bank überleben, die sich am konsequentesten zu einer digitalen Plattform, zu einem digitalen Ökosystem, transformiert hat.

Wenn man bspw. als Filialmitarbeitender einer Sparkasse seine Bosse so reden hört, wenn man erlebt, wie umfangreich Filialen geschlossen werden und wenn man zusätzlich bedenkt, dass die Branche keinen guten Ruf hat, dann fällt es schwer, den eigenen Kindern zu empfehlen, Bankkaufmann zu lernen oder nach dem Studium in einer Bank zu arbeiten.

Es besteht nämlich eine tiefgehende Diskrepanz zwischen der Realität, nach der bspw. noch immer ca. 95% der Erträge im Privatkundengeschäft in den Filialen erwirtschaftet wird (trotz Personalmangel und Corona) und den strategischen Konzepten der „alten, weißen Männer“.

Ich kenne leider keinen Fall, in dem der Sohn (oder die Tochter) eines solchen „Strategen“ mit dem von ihm ausgearbeiteten, detailliert ausgearbeiteten, mehr als zwanzig Einzelziele umfassenden Zielvereinbarungssystem konfrontiert wird, das vorsieht, täglich seinem/ihrem Vorgesetzten Meldung machen zu müssen, inwieweit die zentral vorselektierten Kunden mit den vorformulierten Sätzen kontaktiert wurden, ohne selbstverständlich die für die einzelnen Kontaktaufnahmen vorgegebenen Zeiten zu überschreiten, um die Effizienz zu sichern. 

Ich stelle mir vor, wie der Vater seinem Sohn/seiner Tochter zu erklären versucht, dass man als junger Mensch heute so arbeiten wollen sollte und was die Kinder wohl antworten würden.

Wenn man als Branche insgesamt keinen guten Ruf hat, wenn man darüber hinaus tagtäglich in die Welt posaunt, dass Mitarbeitende „Kosten“ sind, die man durch Digitalisierung reduzieren muss, weil die Kunden ohnehin nur noch Banking per App machen wollen und wenn man dann auch noch mit völlig veralteten Führungs- und Steuerungsmethoden arbeitet, darf man sich nicht fragen, wo die Nachwuchskräfte herkommen sollen, die die anspruchsvollen Zukunftsstrategien umsetzen sollen.

Jeder Top-Manager der Finanzindustrie sollte sich selbstkritisch fragen, welche Wertschätzung er/sie dem Menschen als Erfolgsfaktor entgegenbringt und ob er/sie verstanden hat, dass wir zwar inmitten der Digitalisierung wesentlicher Prozesse leben, dass wir doch aber nicht die Illusion haben dürfen, diese ganzen Veränderungen ohne qualifiziertes und motiviertes Personal bewältigen zu können.

Wieviel Geld investieren Banken in Technologie und wieviel in die personelle Ausstattung? Welches Augenmerk haben Prozess-Optimierungen im Vergleich zur Sicherstellung leistungsfähiger Unternehmenskulturen? Welche Wertschätzung genießen technologische Innovationen im Abgleich mit herausragenden Beratungsleistungen?

Das Perverse dabei ist, dass diejenigen „Strategen“, die die empfundene Arbeitsumgebung (Kultur, Ziele, Kommunikation) der Mitarbeitenden durch Prozesse, Technologie, Regeln und Ziele prägen, selbst wohl niemals in einem solchen System der Bevormundung arbeiten wollen würden, was das Problem noch schlimmer macht, weil es Ausdruck eines Menschenbildes ist, das man von den eigenen Mitarbeitenden hat.

Es fehlt nicht an Erkenntnissen, wie junge Menschen heute arbeiten wollen. Ohne es erschöpfend behandeln zu können, ist klar, dass junge Menschen zunächst einmal einen Sinn in dem erkennen wollen, was sie tun, und dieser Sinn besteht nicht in einem erzielten Gewinn.

Außerdem wollen junge Menschen eigenverantwortlich agieren und mitgestalten können und nicht verlängerte Werkbank von Stabs-Strategen sein, die niemals einen Kunden gesehen haben.

Und schließlich wollen sie wertgeschätzt werden, d.h. sie wollen, dass ihre Leistungen gesehen und anerkannt werden, was bedeutet, dass es dem Management wichtig ist, was auf der operativen Ebene passiert.

Es ist überhaupt nicht erstaunlich, dass in den wenigen mir bekannten Fällen, in denen ein Bankmanagement in dem beschriebenen Sinn agiert, nicht nur die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, sondern in deren Folge auch die betriebswirtschaftlichen Ergebnisse steigen und die Menschen in der Organisation, allen externen Schwierigkeiten zum Trotz, ein positives Zukunftsbild in sich tragen, d.h. sie sehen eine Zukunft für ihre Bank, weil sie sie mitgestalten können.

Es ist aber auch frustrierend, dass Bankmanager, die in diesem Sinn agieren, von ihren Kollegen oft als Außenseiter betrachtet werden, fast wie Verrückte.

Zwar wird quasi „unter der Hand“ schon mal nachgefragt, was man denn da so mache, weil sich meist die Ergebnisse dieser Banken, wie gesagt, besser entwickeln als der Durchschnitt, aber in offiziellen Runden wird nach wie vor der mechanische Weg gepredigt, weil man das immer so gemacht hat.

Es ist aber nach meiner festen, über sehr viele Jahre hinweg gewachsenen Überzeugung, so, dass diese wenigen Bankmanager, die den Wert des Faktors Mensch nicht nur erkannt haben, sondern auch konsequent entwickeln und nutzen, diejenigen sind, die den Zug der Zeit am besten erkannt und daher auch vor allen anderen ihre Zukunftschancen beträchtlich verbessert haben.

Während die Mehrheit noch mit dem Lötkolben im Keller sitzt und an Prozessen herumbastelt, sind die anderen schon auf den Märkten, sprechen Kunden an und machen Geschäfte, weil sie die Menschen dafür haben. Und wir werden in den kommenden Jahren die Ergebnisse dieser Diskrepanz sehen.

Es gibt in vielen Finanzorganisationen den Spruch, man habe kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Das ist falsch, jedenfalls für die Fraktion der „alten, weißen Männer“, denn sie haben ein Umsetzungsproblem, weil sie ein Erkenntnisproblem haben. Das macht die Sache und die Perspektive nicht einfacher.

 Herzliche Grüße aus Brand

Hans-Dieter Krönung