#93 – Olympia und der chinesische Komplex – eine „wilde“ Theorie

Eifelturm

„Übung macht den Meister“ (Sprichwort)

Geht es Ihnen bei den olympischen Spielen wie mir? Man schaut sich Sportarten an, die man normalerweise niemals auch nur zur Kenntnis nehmen würde bzw. die man bislang nicht einmal kannte. 3×3 Basketball und Kayak Cross sind mir erst bei Olympia in Paris zur Kenntnis gelangt, auch weil deutsche Sportler dort erfolgreich mitmischten. Plötzlich schaut man sich auch Bogenschießen, Dressurreiten und Judo an, weil es einfach spannend ist. Mit einem Auge schielt man natürlich auch zur Nationenwertung und lernt Bahnradfahren schätzen.

Apropos Medaillenspiegel; es sind ja, wie immer, die beiden großen Nationen China und USA, die den Medaillenspiegel dominieren und man kann sich gut vorstellen, wie wichtig den politischen Führern insbesondere in China ein herausragendes Abschneiden seiner Sportler ist. Für absolutistisch geführte Staaten hat der Sport ja schon immer dafür herhalten müssen, als Gradmesser der Leistungsfähigkeit eines politischen Systems gelten zu müssen. Nicht umsonst war die untergegangene DDR bei olympischen Spielen zumeist erfolgreicher als die BRD, weil man zeigen wollte, dass man durchaus in der Lage war, Top-Leistungen zu erbringen und damit der eigenen Bevölkerung vorzugaukeln versuchte, dass man doch das „richtige“ politische System installiert hatte. Wir kennen heute alle die Voraussetzungen, unter denen diese „Top-Leistungen“ erzielt wurden und können diese damit auch vernünftig bewerten.

Was mir seit Jahren auffällt und sich nach meiner Beobachtung auch bei Olympia 2024 wieder zeigt, ist, dass sich China in bestimmten Sportarten zur beherrschenden Nation entwickelt hat, dass es sich aber in bestimmten anderen Sportarten noch immer sehr schwertut.

In Paris haben chinesische Sportler die mit Abstand meisten Medaillen im Schwimmen (inkl. Wasserspringen), im Geräteturnen, im Tischtennis und Badminton sowie in den Schieß-Disziplinen (inkl. Bogenschießen) gewonnen. Seltene „Ausreißer“ waren Judo, Tennis und Hammerwerfen der Frauen.

Dagegen fehlen vorzeigbare Erfolge in allen klassischen Mannschaftssportarten wie Fußball, Handball, Hockey, Volleyball, Basketball und Eishockey (Winterolympiade) – und das seit vielen Jahren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es den chinesischen Sportfunktionären egal ist, wie man China in diesen Sportarten wahrnimmt, zumal gerade diese Sportarten ja auch außerhalb der olympischen Spiele eine große Aufmerksamkeit genießen, mithin also der Ehrgeiz, die eigene Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, besonders ausgeprägt sein müsste. 

Ich möchte eine vermeintlich „wilde“ These mit Ihnen teilen. Vielleicht ist meine Beobachtung Zufall, vielleicht aber auch nicht. Bringt ein totalitäres System möglicherweise überhaupt nur dann Top-Leistungen hervor, wenn es sich um sehr gut „kontrollierbare“ Sportarten handelt, wenn also der Einfluss des Trainers auf den Sportler sehr groß ist, und wenn dazu noch Trainingsdisziplin entscheidend für das Ergebnis ist?

Wer einmal Berichte darüber gesehen hat, wie Kinder in China für Geräteturnen oder Tischtennis ausgewählt und „entwickelt“ werden, hat eine Vorstellung, welche Menschentypen da gezüchtet werden. Junge Menschen werden zu „Diamanten“ geschliffen, für Individualität ist dort kein Platz. Schwer vorstellbar, dass in einem solchen System ein Christiano Ronaldo oder ein Lionel Messi groß werden könnten.

In klassischen Mannschaftssportarten liegt der Erfolg immer in der Kombination von Disziplin und Individualität. Die berühmten „Spieler, die Spiele entscheiden“ sind zumeist Charaktere, deren individuelle Qualität von früheren Trainern erkannt und gefördert, nicht selten auch geduldet wurde. Nur über die Freiheit, die Individualität auch ausleben zu können, sind Spitzenleistungen im Mannschaftssport möglich. Der „autistisch“ agierende Superstar wird im Fußball kein Superstar, weil er die Mitspieler braucht; selbst Messi hätte allein niemals Weltmeister werden können.

Vielleicht vertragen sich Totalitarismus und Individualität nicht miteinander und vielleicht ist genau dies auch Chinas Problem mit den Mannschaftssportarten. In den Mannschaftssportarten ist es zudem schwer, sich über längere Zeiträume in der Weltspitze zu behaupten; der deutsche Fußball kann ein Lied davon singen. Es gibt in allen diesen Sportarten immer wieder Konstellationen, wo eine spezifische Kombination aus individueller Klasse und mannschaftlicher Geschlossenheit zu überraschenden Erfolgen führt.

Können wir daraus für unser tägliches Führungsverständnis etwas lernen? Möglicherweise, denn auch in unseren Organisationen arbeiten starke Kräfte kontinuierlich daran, Individualität zu eliminieren und stattdessen Prozesstreue zu fordern. Ich möchte nicht missverstanden werden: Individualität bedeutet nicht gleichzeitig Disziplinlosigkeit! Wenn „Eigenverantwortung“ zu Abschottung und Silo-Denken führt, läuft etwas schief.

Aber wir müssen uns vergegenwärtigen, dass insbesondere die Verbundorganisationen deshalb erfolgreich sind, weil sie der Individualität der Regionen durch Nähe Rechnung tragen. Überregionalen Standard kann auch die Deutsche Bank bieten, nicht aber individuelle Nähe.

Der amerikanische Soziologe Barry Schwartz hat einmal gesagt: „Starke Regeln und ausgefeilte Anreizsysteme sind vielleicht dumm, aber sie ersparen das selbständige Denken, und sie verhindern Katastrophen. Der Preis dafür aber ist Mittelmäßigkeit!“. Das bringt es sehr gut auf den Kern. Individualität kann nur in einem von Vertrauen geprägten Umfeld gedeihen. Ausgefeilte Kontrollsysteme, und detaillierte Prozessvorgaben sind Kontrollsysteme, tragen immer den Kern des Misstrauens in sich.

Umgekehrt ist Individualität, eingebunden in die gemeinsamen Ziele einer Mannschaft, die Voraussetzung für Top-Leistung. Mannschaften geben Sicherheit und Wertschätzung – wer kennt das nicht aus eigener Erfahrung. Mannschaften geben aber auch den Rahmen für Individualität und Kreativität. Nur wer sich etwas zutraut, hat auch die Kraft, eigene Ideen zu entwickeln und zu vertreten und ggf. neue Wege zu öffnen.

Eine erfolgreiche Mannschaft aufzubauen und weiterzuentwickeln ist wohl die anspruchsvollste Führungsaufgabe, weshalb ich immer wieder die Auffassung vertrete, dass das Filial-gestützte Privatkundengeschäft in den Banken deren anspruchsvollste Führungsaufgabe darstellt, eine Meinung, die leider nur sehr selten geteilt wird. Eine Mannschaft kann nur in der Balance zwischen individueller Energie und gemeinschaftlicher Disziplin entstehen, wobei sich die individuelle Energie dem mannschaftlichen Ziel unterordnen muss.

Nach meiner langjährigen Beobachtung dominiert gerade in den Filialorganisationen ganz eindeutig das Prozess- und damit das Sicherheitsdenken. Die vielfach vorhandene individuelle Energie bei Mitarbeitenden wird systematisch „geschliffen“, weil die Prozesse einen dominanten Einfluss auf das Denken und Handeln der Menschen haben. Ein Kollateralschaden dieser Entwicklung ist eine „Dienst nach Vorschrift“-Mentalität, die in sehr vielen Filialorganisationen Einzug gehalten hat. Da man aber in den meisten Regionalbanken dringend darauf angewiesen ist, mehr und bessere Mitarbeitende zu gewinnen, um den wachsenden Herausforderungen im Markt begegnen zu können, ist diese Entwicklung besonders schädlich. Schließlich ist die Filialorganisation bei den meisten Regionalbanken noch immer der wesentliche Ausbildungsbereich und „Zulieferbetrieb“ für andere Bereiche der Bank. „Wer Mittelmäßigkeit züchtet, bekommt auch nur Mittelmäßigkeit“, könnte man frei nach Barry Schwartz sagen.

Erfolgreiche Mannschaften wecken die individuelle Energie durch gemeinschaftlichen Ehrgeiz. Dafür braucht es individuelle Freiheit, um in Spielsituationen kurzfristig reagieren zu können. Auch der ambitionierteste Trainer kann nicht ständig hinter jedem seiner Spieler hinterherlaufen und rufen „Jetzt links, jetzt rechts“. Er muss darauf vertrauen, dass alle gemeinsam wissen, wie sie erfolgreich sein können und was jedes Mannschaftsmitglied jederzeit dafür tun muss.

In Kontroll-orientierten Systemen, ob in einer Organisation oder in einem Staat, kann dauerhaft kein erfolgreicher Mannschaftssport betrieben werden. Vertrauen ist die Basis für erfolgreiche Mannschaften, weil sie den Raum für individuelle Kreativität liefern, weshalb auch in totalitären Systemen wie in China dauerhaft kein Unternehmertum entstehen kann, denn Unternehmertum braucht auch Vertrauen in die Rahmenbedingungen, die die Führung setzt.

Gerade Regionalbanken brauchen mehr denn je attraktive Rahmenbedingungen für die richtige(!) Entwicklung ihres Nachwuchses. Es geht nicht mehr in erster Linie um die Verhinderung von Katastrophen, sondern um das Wecken individueller Energie. Das ist kein Plädoyer für Chaos, sondern der Hinweis auf die dringende Änderung der Prioritäten, gerade im Filialgeschäft als Keimzelle der Mitarbeiterentwicklung. Fragen Sie sich doch bitte einmal in einer ruhigen Minute, welche Aufmerksamkeit ihre Filialorganisation in den letzten Jahren erfahren hat und welche Botschaften sie in dieser Zeit erhalten hat. Regulatorik, Corona, Künstliche Intelligent, Neo-Banks, Konditionenkampf – was war da sonst noch?

Wenn Sie „vorne mitspielen“ wollen, müssen Sie erfolgreiche Mannschaften entwickeln; über Prozesse wird das nicht gelingen, denn wenn es so einfach wäre, hätte es doch schon jeder geschafft. Stellen Sie sich doch bitte die weitere Frage, ob Sie als junger Mensch Spaß daran hätten, in Ihrer Filialorganisation zu arbeiten und sich einzusetzen. Totale Kontrolle oder dauerhafter Erfolg – Sie haben wie Wahl.

Vielleicht sollte ich diesen Standpunkt ins Chinesische übersetzen ….

Herzliche Grüße aus Brand

Hans-Dieter Krönung