„Man soll einfach reden, aber kompliziert denken – nicht umgekehrt“
(Franz Josef Strauß)
Die Menschen im Ruhrgebiet haben eine beneidenswerte Fähigkeit, komplexe Dinge in einfachen Worten, aber inhaltlich erschöpfend zu erklären, nämlich zum Beispiel eine Pechsträhne. Dazu sagt man im Ruhrgebiet einfach: „Haste Kacke am Schuh, dann haste Kacke am Schuh“. Und dann weiß jeder Zuhörer, was gemeint ist, nämlich Schicksal bzw. ein wenig philosophischer: Konzentriere Dich auf die Dinge, die Du beeinflussen kannst.
Insbesondere in großen Organisationen höre ich immer wieder, dass man sich überhaupt nicht mehr auf die wichtigen Dinge konzentrieren könne, weil man operativ völlig überlastet sei. Die Komplexität des Tagtäglichen trübt den Durchblick für strategische Entwicklungen, klare Orientierungen bei der Lösungsfindung sowie für die Konsequenz bei der Realisierung von Veränderungen.
Dabei räumen die meisten Top-Manager sofort ein, dass zwar viele exogene Faktoren wie z.B. die Regulatorik erheblich dazu beitragen, dass es komplizierter geworden ist, ein Unternehmen der Finanzdienstleistungsbranche zu führen, dass es aber auch damit zusammenhängen könnte, dass man als Organisation selbst erheblich dazu beiträgt, kompliziert zu sein.
Ein langjähriger Top-Manager eines Regionalverbands beschrieb mir dieses Phänomen wie folgt: „Als ich vor zwanzig Jahren meine Arbeit im Verband begann, hatten wir einen einzigen Juristen, und der hat sich den halben Tag gelangweilt. Heute haben wir fünf völlig überarbeitete Juristen. Das liegt aber vor allem daran, dass unsere Mitglieder mittlerweile fast überall eigene Rechtsbereiche gegründet haben, in denen überwiegend Juristen sitzen, die unsere Verbandsjuristen mit Themen beschäftigen, die es früher noch gar nicht gab, weil es die Juristen nicht gab.“
Diese Beobachtung mag etwas tendenziös sein, aber sie beschreibt ein Phänomen, auf das ich bei der Suche nach Effizienzpotenzialen meiner Klienten immer wieder stoße. Es ist alles viel komplexer geworden, aber viele Organisationen machen es sich selbst unnötig kompliziert, indem sie Tätigkeiten ausführen und Aufgaben definieren, die hinsichtlich Notwendigkeit und Umfang deutlich zu hinterfragen sind.
In sehr großen Organisationen bindet die Absicherungsmentalität gegenüber anderen Organisationseinheiten einen erheblichen Teil der Gesamtressourcen (inkl. Überstunden), d.h. es werden Berichte, Stellungnahmen und Analysen angefertigt, die nur deshalb erstellt werden, um zu verhindern, für etwaige Fehlentwicklungen haftbar gemacht zu werden.
Wenn man sich bspw. fragt, warum Großbanken schlechtere CIR-Kennziffern aufweisen als viele kleinere Banken, obwohl sie doch eigentlich „Economies of Scale“ realisieren müssten, dann liegt das genau an dem beschriebenen Phänomen, dass nämlich diese Skaleneffekte mehr als aufgezehrt werden durch selbstgemachte Ineffizienzen ausgeprägter „Silo“-Kulturen.
Der Nobelpreisträger Coase hat dieses Phänomen schon sehr früh als „interne Transaktionskosten“ beschrieben.
Es stellt sich die Frage, ob Komplexität gewissermaßen ein Naturgesetz ist, d.h. dass Komplexität zwangsläufig entsteht bzw. besteht, wenn eine Organisation eine gewisse Größe überschreitet.
Die Frage nach dem Naturgesetz rechtfertigt den Blick ins Universum, das ohne Zweifel außerordentlich groß und komplex ist, sogar so komplex, dass die Menschheit seit ihrer bewussten Existenz nur Bruchteile davon verstanden hat. Diese Komplexität hat Einstein zu der Aussage geführt, man solle die Welt so einfach wie möglich betrachten, aber nicht einfacher. Das war als Hinweis darauf gedacht, den Respekt vor der Komplexität nicht zu verlieren.
Wäre Einstein heute Top-Manager in einer Bank, er würde sich auch mit Komplexität auseinandersetzen müssen.
Was ihm dabei aber sicher helfen würde, wären seine Kenntnisse bezüglich der Gesetze, nach denen das Universum zu funktionieren scheint. Denn auch wenn wir bei weitem nicht alles von dem verstanden haben, was die Welt um uns bewegt, deutet doch vieles darauf hin, dass es relativ wenige, dafür aber mächtige „Gesetze“ gibt, die die Entwicklung des Universums steuern, z.B. die Gravitation oder die Symmetrie.
In den vergangenen ca. einhundert Jahren ist es den Forschern gelungen, mithilfe mathematischer Modelle Vorhersagen zu treffen, die sich z.T. erst Jahrzehnte später bestätigten (z.B. Higgs-Teilchen). Damit haben sich theoretische Physiker mit mathematischen Modellen auf den Weg gemacht, das Universum zu „entschlüsseln“. Während es zu Zeiten Humboldts üblich war, die Welt zu beobachten und theoretische Schlussfolgerungen daraus zu ziehen (s. Evolutionstheorie), können heute aufgrund der bekannten Gesetzmäßigkeiten Vorhersagen getroffen und berechnet werden, deren experimentelle Bestätigung z.T. erst viel später möglich wurde, weil sich die Technologie entsprechend weiterentwickelt hatte.
Was der Physik mithilfe der Mathematik gelungen ist, ist, sich dem Verständnis der Komplexität zu nähern, ohne vor einer zu hohen Kompliziertheit kapitulieren zu müssen.
Der Grund hierfür sind die (wohl) relativ einfachen Grundgesetze, nach denen das Universum grundsätzlich aufgebaut zu sein scheint.
Es erscheint mir schlüssig, dass hochkomplexe Systeme besser verstanden und damit auch gesteuert werden können, wenn ihre innere Logik („Gesetze“) nicht kompliziert ist.
Übertragen wir diese Hypothese auf ein Unternehmen, so würde das bedeuten, dass eine Organisation deutlich besser mit Komplexität umgehen kann, wenn die ihr eigene „Gesetzmäßigkeit“, nach der sie sich bewegt bzw. nach der sie gesteuert wird, klar und einfach strukturiert ist, also nicht kompliziert ist.
Es bleibt somit die Frage, was diese „Gesetzmäßigkeit“ ist, die die innere Steuerung einer Organisation beschreibt.
Der berühmte Spruch „Culture eats strategy for breakfast“ drückt es bereits aus: Kultur ist die innere Gesetzmäßigkeit, nach der eine Organisation „tickt“.
„Kultur“ ist immer einzigartig, d.h. jedes Unternehmen hat seine eigene Kultur, die durch die Art und Weise, wie die Menschen in dem betreffenden Unternehmen miteinander interagieren, welche Werte sie leben, welches Maß an Mitverantwortung sie für das Wohl „ihres“ Unternehmens empfinden etc., beschrieben werden kann.
Jedes Top-Management beschäftigt sich mit „Kultur“, weil man verstanden hat, dass „Kultur irgendwie wichtig ist“.
Dabei beobachten wir heute z.B. Alibi-Strategien nach dem Motto: „Haben wir auch mal formuliert, liegt aber jetzt in irgendwelchen Schränken herum.“ Dies fällt unter das Urteil Einsteins, nach dem die Dinge nicht „zu“ einfach gedacht werden sollten. Das Problem überzogener Vereinfachung liegt darin, dass damit keine Wirkung ins Unternehmen erzeugt wird, was wiederum über eine gewisse Zeit zu vielfältigen Sub-Kulturen führt, die den Umgang mit der Organisation sehr kompliziert werden lässt.
Ebenfalls untauglich sind aufwändige Kultur-Programme, die losgelöst von der konkreten Unternehmenswirklichkeit Methoden des Umgangs miteinander trainieren, in der Hoffnung, erwachsene Menschen ließen sich dadurch in ihrem grundsätzlichen Verhalten verändern. Programme dieser Art erzeugen für die Menschen keine Verbindung mit der erlebten Realität und werden daher hinsichtlich ihrer Wirkung von den unerbittlichen Walzen des operativen Tagesgeschäfts zermahlen, was wiederum zum Entstehen von Sub-Kulturen und großer Kompliziertheit führt.
Der einzige Schlüssel zu wirksamem Komplexitätsmanagement liegt in der Erkenntnis, dass es einen (negativen) Zusammenhang zwischen Komplexität und Kooperation gibt.
Wer sich systematisch mit dem Entstehen von Komplexität in einer Organisation auseinandersetzt, erkennt schnell, dass die Quelle Komplexitäts-bedingter Mehrkosten in mangelnder Zusammenarbeit zwischen Organisationseinheiten begründet liegt, was wiederum eine Folge mangelnden gegenseitigen Vertrauens ist, was wiederum starke Hinweise auf eine entsprechende Kultur gibt.
Komplexitätskosten sind idR. Kosten für überflüssige Aufgaben bzw. für unangemessen aufwändige Bearbeitung von Aufgaben, weniger klassische Prozessoptimierungs-Probleme.
Fragestellungen zu Prozess-Optimierungen haben häufig eher strategischen Charakter; Komplexitätskosten sind dagegen eher Kultur-induziert.
Wir erleben sehr häufig, dass Organisationen mit großem Aufwand „industrialisiert“ werden, d.h. dass Prozesse automatisiert oder digitalisiert werden, um Effizienzpotenziale zu erschließen, dass aber aufgrund der fehlenden kulturellen Veränderung auch die optimierten Prozesse über einen Zeitablauf wieder „verfettet“ werden, so dass der beabsichtigte Effizienzeffekt nicht eintritt bzw. wieder aufgezehrt wird.
Wenn Sie also wahrhaftig und wirksam das „C“ in Ihrer CIR verringern wollen, dann wird das ohne kulturellen Bezug nicht gehen. Der größere Teil Ihrer Einsparpotenziale liegt in der Vereinfachung von Aufgabenstrukturen, indem Kooperation intensiviert wird. Wer unter überflüssigem Bauchfett leidet, sollte seine Ernährung überprüfen, aber sich auch tendenziell mehr bewegen; das ist der kulturelle Teil.
Fassen wir zusammen: Kompliziertheit ist die Folge mangelnden Komplexitätsmanagements. Mangelndes Komplexitätsmanagement wiederum ist eine Folge einer ineffizienten, weil nicht Kooperations-orientierten Organisationskultur und äußert sich in überflüssigen Aufgaben, weniger in ineffizienten Prozessen.
Die Therapie besteht aber nicht darin, an den Symptomen herum zu „werkeln“, also bspw. kulturelle Selbsthilfegruppen zu bilden, um sich gegenseitig besser zu verstehen und Verhaltensregeln für den Umgang miteinander zu formulieren, weil das nicht das eigentliche Problem löst.
Was wir u.a. aus der Beobachtung des Universums (und aus der Beobachtung erfolgreicher Organisationen) lernen können, ist, dass es kulturelle Richtlinien geben muss, die im tagtäglichen Geschäft verankert und erlebbar sind, und zwar für jeden und alle. Es braucht dazu nur weniger, dafür aber wirksame und gelebte „Grundgesetze“, die das kulturelle Selbstverständnis einer Organisation beschreiben. Im militärischen Umfeld spricht man in
diesem Zusammenhang gerne von „Ehrenkodex“, was in manchen Ohren etwas unzeitgemäß klingt, aber dennoch ganz gut auf den Punkt bringt, was eine leistungsfähige Kultur ausmacht.
Es geht nicht darum, hochtrabende Werte des Umgangs miteinander an alle Bürowände zu hängen, sondern darum, mit wenigen klaren Regeln das Grundgesetz, wie über die Grenzen der Arbeitsteiligkeit in einer Organisation zusammengearbeitet werden soll.
Wenn das gelingt, richtet sich die Kraft jeder Organisationseinheit primär auf den gemeinsamen Erfolg der Gesamtorganisation, nicht mehr auf das Vermeiden der Verantwortung für Misserfolge.
Wenige, aber mächtige Gesetze regeln den Lauf des Universums ….
Herzliche Grüße aus Brand
Hans-Dieter Krönung