„Imagine there`s no heaven…“ (John Lennon)
Viele leitende Mitarbeitende kennen diese Situation: Es ist Dienstagmittag, es ist Vorstandssitzung, man hatte einen Termin zur Vorstellung eines Themas um 11 Uhr bekommen und man sitzt jetzt um 13 Uhr noch immer auf Abruf in seinem Büro, weil sich die Agenda der Vorstandssitzung wieder einmal verschoben hat.
Jede Vorstandssitzung ist ein Aufmarsch der Entscheidungsträger und -zuarbeiter, es herrscht ein Auftrieb wie in Churchills Kriegskabinett in dessen „dunkelster Stunde“. Und wieder einmal dauert die Sitzung endlos lange und trotzdem werden einige Themen, für die dennoch keine Zeit mehr war, auf spätere oder auf Sondersitzungen vertagt.
Als Berater kommt man schon von Berufs wegen sehr häufig als Gast in solche Sitzungen, um bspw. Projektergebnisse zu präsentieren.
Und es ist mir in den vielen Jahren immer wieder aufgefallen, dass es Unternehmen gibt, in denen man sich darauf einstellen kann, einigermaßen pünktlich in die Sitzungen hineingebeten zu werden und andere, bei denen man sich nach kurzer Zeit der Erfahrung schon darauf einstellt, mindestens eine Stunde oder sogar länger warten zu müssen.
Durch sehr viele persönliche Gespräche mit Top-Managern, die sich regelmäßig in solchen Sitzungen befinden, hat sich mir ein Muster offenbart, das ich gerne vorstellen und teilen möchte.
Ein nicht unerheblicher Teil der Manager beklagt sich darüber, in jeder Vorstands- oder Geschäftsleitungssitzung mit großen Mengen operativer Themen überhäuft zu werden, die sehr viel Zeit verschlingen, weil man zu vielen dieser Themen unterschiedlicher Meinung sein kann bzw. sich auch ausreichend tief in die jeweilige Sachlage hineinarbeiten muss, um profund urteilen und entscheiden zu können.
Dabei handelt es sich bei den zu bearbeitenden Themen sowohl um strategische Fragestellungen bzw. um schwerwiegende Krisenthemen als auch um operative Richtungsentscheidungen bzw. Detailthemen, über die sich die operativen Einheiten nicht einigen konnten und die deshalb in die Geschäftsleitung eskaliert wurden.
Manager, die sich in dieser Umgebung bewegen, sehen in der Regel auch keinen Ausweg, weil diese Themen nun mal da sind und entschieden werden müssen.
Wie also schaffen es andere Manager, einen straffen, geordneten Ablauf sicherzustellen?
Zunächst einmal liegt die Lösung in einer Art „Out of the box“-Denken, denn wenn sich die gesamten Entscheidungsprozesse einzig und allein auf die Vorstandssitzung konzentrieren, muss diese zwangsläufig komplex und zeitintensiv sein.
Man kann aber alternativ auch eine funktionale Aufteilung von Sitzungsstrukturen schaffen, die dazu führt, dass bestimmte Themenkomplexe systematisch von den Vorstandssitzungen ferngehalten werden.
Da sind zum einen regelmäßige Klausursitzungen (1-2 x p.a.), in denen ausschließlich grundsätzliche, strategische und komplexe Fragestellungen bearbeitet werden, die zwar grundsätzlich, aber eben nicht dringend sind. Solche Klausursitzungen werden in vielen Instituten abgehalten, nur dienen sie viel zu oft der Abarbeitung liegengebliebener operativer Themen bzw. dem „Socialising“, also dem zwischenmenschlichen Austausch.
In diszipliniert geführten Instituten sind Klausursitzungen dagegen sorgfältig vorbereitete Standortbestimmungen, in denen das Top-Management analysiert, wo man stehen wollte, wo man steht, und welche Richtungsentscheidungen getroffen werden müssen; sonst nichts.
Wenn Klausursitzungen in diesem Sinn in immer wiederkehrender Methodik strukturiert werden, entsteht zum einen ein Ritual, das immer wieder zur Abstimmung des „Management-Koordinatensystems“ führt, d.h. alle Mitglieder des Top-Managements erhalten die gleichen Botschaften und stimmen diese ab, zum anderen bekommen alle Mitglieder des Teilnehmerkreises grundsätzliche Richtungsvorgaben, die die operative Abstimmung im Tagesgeschäft OE-übergreifend erleichtert.
Neben den Klausursitzungen haben diszipliniert geführte Institute bestimmte Sonder-Kreise eingerichtet, um komplexe Themen, die aber nicht alle Mitglieder des Top-Managements in gleicher Weise tangieren, gründlich durchzuarbeiten und ggf. zu treffende Entscheidungen vorzubereiten. Dazu eignen sich typischerweise Risiko- und Personalthemen, aber auch Fragen der Prozessoptimierung oder des Lieferantenmanagements. Wenn man diesen Sonder-Kreisen eine besondere organisatorische Bedeutung beimessen möchte, nennt man sie „Komitees“.
Auch diese Sonder-Kreise dienen dazu, den Arbeitsaufwand in den regelmäßigen Vorstandssitzungen zu minimieren, weil in den Sonder-Kreisen die Komplexität der jeweils zugeordneten Themen durchgearbeitet und damit tendenziell auch reduziert wird, so dass entsprechend weniger Grundsatzdiskussionen in den regelmäßigen Vorstandssitzungen notwendig sind.
Der wesentlichste Faktor für ein diszipliniertes Sitzungswesen ist aber die gewollte und umgesetzte Mitverantwortung der Top-Führungskräfte.
Es wird im Management gerne von „Eigenverantwortung“ gesprochen, womit der Wunsch ausgedrückt wird, dass eine Top-Führungskraft, bspw. ein Bereichsleiter, den von ihm/ihr geleiteten Bereich vollumfänglich eigenständig führt, d.h. nur in Ausnahmesituationen den Rat und die Unterstützung seines/ihres Vorstandsmitglieds benötigt.
Das ist an sich nicht falsch, springt aber als Steuerungsimpuls deutlich zu kurz, denn in einem arbeitsteiligen System, wie es ein Unternehmen nun einmal ist, reicht es nicht aus, nur den eigenen Bereich im Fokus zu haben, sondern gemeinsam mit anderen Bereichsleitern „mitverantwortlich“, das möglichst optimale Zusammenwirken der operativen Kräfte sicher-zustellen.
Das schließt ausdrücklich die Existenz von „Silo-Denken“ aus, was der Begriff der „Eigenverantwortung“ nicht leistet.
Lautet also das Credo der Führungsphilosophie, man wolle Führungskräfte zur „Eigenverantwortlichkeit“ hin entwickeln, legt man gewissermaßen schon die Keimzelle des Silo-Denkens, nach dem im eigenen Bereich zwar alles bestens, bei den anderen Bereichen aber vieles verbesserungswürdig ist.
„Mitverantwortung“ bedeutet daher, neben der „Eigenverantwortlichkeit“ als „Conditio sine qua non“ eine Top-Führungskraft auch daran zu messen, wie reibungslos mit anderen OEs im Sinne der Erreichung der Gesamtziele zusammengearbeitet wird.
Man kann als Bereichsleiter der größte Experte in seinem Fach sein; wenn man aber nicht in der Lage ist, mit den anderen Bereichsleitern gemeinsam und engagiert an der Erreichung der Gesamtziele zu arbeiten, ist man fehl am Platz.
Insofern ist die Unterscheidung zwischen „Eigenverantwortung“ und „Mitverantwortung“ eine sehr bedeutsame und ggf. folgenschwere.
Es liegt auf der Hand, dass Mitverantwortung eine Grundsatzentscheidung des Top-Managements sein muss, denn es bedeutet, Entscheidungsbefugnisse zu delegieren. Dies wiederum setzt weitgehendes Vertrauen in die Führungskräfte voraus, womit wir bei des „Pudels Kern“ sind.
Viele Top-Manager beklagen ihre operative Überlastung, wollen aber andererseits auch Alles und Jeden kontrollieren, weil sie kein Vertrauen in die mitarbeitenden Führungskräfte haben. Das ist ein Zirkelschluss, denn umfangreiche Kontrolle schafft nun einmal Komplexität.
In einem disziplinierten „Gemeinwesen“ werden dagegen durch das Top-Management im Rahmen von entsprechend strukturierten Klausursitzungen die strategischen Impulse gesetzt, die mitverantwortlich von den operativen Top-Managern, also den Bereichsleitern, umgesetzt werden.
Thematisch komplexe Dauerthemen wie Risiko oder Personal werden in dafür eingerichteten „Komitees“ durchgearbeitet, um gleichermaßen effizient und qualifiziert entscheiden zu können.
Wenn diese beiden Organisationsmodelle konsequent gelebt werden und wenn der Grundsatz der Mitverantwortung diszipliniert umgesetzt wird, dann ist der Charakter der regelmäßigen Vorstandssitzung das „Management of exception“, d.h. die Bearbeitung von Aktuellem oder Unvorhergesehenem, und damit zeitlich deutlich entspannter.
Im Extremfall könnte eine Vorstandssitzung sogar entfallen, wenn keine Sonderthemen im eben genannten Sinn anliegen.
Ich kann verstehen, wenn einige Leser jetzt an John Lennon`s „Imagine“ denken, wo er den Zuhörer auffordert, sich vorzustellen, es gebe keinen persönlichen Besitz mehr.
Mir geht es nicht um Träume; mir geht es um Richtung und Selbstverständnis. In viel zu vielen Instituten werden Vorstandssitzungen noch als „Institution der Macht“ zelebriert, weil es dem Vorstand dessen Bedeutung demonstriert.
Das kann man so machen, nur ist es nicht mehr zeitgemäß und schon gar nicht effektiv.
Gerade jüngere Menschen, die in Top Management-Funktionen hineinwachsen, wollen zumeist in flachen, Team-orientierten Führungsstrukturen arbeiten, wie es Start-ups idealtypisch verkörpern.
Für sie ist „Autorität“ etwas, das aus Persönlichkeit, Engagement und Wissen, nicht aus formalen Entscheidungsprozessen resultiert.
Mittlerweile amüsiert es mich, wenn ich in Instituten die Assistenzen beobachten kann, wie sie den Ausnahmezustand der regelmäßigen Vorstandssitzungen zu bewältigen versuchen.
Ist der Sitzungsraum sauber und gelüftet, und stehen die technischen Geräte verlässlich zur Verfügung?
Ist der Kaffee für den Vorstand A richtig aufgebrüht und der Tee für den Vorstand B vorbereitet, und ist die Tischordnung auch richtig vorbereitet (denn jeder Vorstand hat ja auch seinen angestammten Platz)?
Sind die Erfrischungen kalt und das Gebäck auch frisch genug und haben alle daran gedacht, dass der Vorstandsvorsitzende seinen Cappuccino aus dem exquisiten Vorstands-Kaffeeautomat auch pünktlich um 11 Uhr gebracht bekommt?
Und wenn diese elementaren Dinge schließlich alle geregelt sind, dann kann Hof gehalten werden, d.h. die Untergebenen werden vorgelassen, um ihre Anliegen vorzutragen, so, wie es dem Vorstand genehm ist.
Ja, so war es vielleicht einmal, als es noch keinen wirklichen Zwang zu professionellem Management in Finanzinstituten gab; man konnte sich ein solches Gehabe leisten.
Diese Zeiten sind endgültig vorbei, nur fällt es vielen Top-Managern noch schwer, sich entsprechend anzupassen. Es ist mitunter, als wolle man sich wenigstens noch ein einziges Relikt aus vergangenen, glücklichen Zeiten bewahren.
Andererseits kann es reizvoll sein, die regelmäßigen Vorstandssitzungen nutzen zu können, um sich mit den wichtigen Themen, die nicht die operative Verwaltung ausmachen, zu befassen. Es gibt immer noch genügend Aktuelles und Unvorhergesehenes, über das zu sprechen sich einmal wöchentlich lohnt.
Prüfen Sie sich doch einmal selbst, sofern sie regelmäßiger Teilnehmer von Vorstandssitzungen sind. Führen Sie schon oder verwalten Sie noch?
Herzliche Grüße aus Brand
Hans-Dieter Krönung