#2 – Das mechanische Führungsprinzip – Geissel des Managements

„Das, was man verändern will, muss man zunächst verstehen“

Alfred Herrhausen

Management ist Führung und Führung ist Management, könnte man vereinfacht sagen. Unbestritten ist Führung das Herzstück der Management-Tätigkeit und es gibt gewiss keinen Manager, der sich nicht in regelmäßigen Abständen fragt, ob er denn richtig „führe“. Solange wir Menschen in sozialen Gemeinschaftsstrukturen leben, wird geführt, angeführt oder auch verführt. Unbestritten ist Führung auch ein zentraler Erfolgsfaktor für de n Unternehmenserfolg. Für die meisten Manager endet leider auch die Auseinandersetzung mit notwendigen Veränderungsmaßnahmen bei der Feststellung, man habe eben nicht die Führungskräfte, um ein solches Programm umzusetze n, ode r, das Problem seien die Führungskräfte, so, als ob man nicht selbst dazugehören würde.

Was aber ist „Führung“ eigentlich? Was ist der Zweck von „Führung“ und was unterscheidet „gute“ von „schlechter“ Führung?

Es gibt kaum einen Begriff, der auf einen entsprechenden Umfang gedruckten Materials verweisen kann wie „Führung“, Ausarbeitungen, die sich dem Thema aus militärischer, biologischer, psychologischer oder prozess-orientierter Sicht nähern. Insbesondere im angelsächsischen Raum ist ja die Denkhaltung weit verbreitet, anhand von Benchmarks, also großen Führungspersönlichkeiten, Handlungsempfehlungen ableiten zu können. Man bedient sich großer „Führer“, von Alexander dem Großen über Cäsar und Macchiavelli bis Churchill und Kennedy. Auch im Managementumfeld wurde den Erfolgsgeheimnissen von General Electric über IBM bis Microsoft nachgespürt und „entdeckt“, was diese Firmen einzigartig mache. Auch das deutsche Manager Magazin kürt jedes Jahr den „Manager des Jahres“ und wird sicher nicht mehr gerne daran erinnert, wen sie in den vergangenen Jahren alles gekürt hat.

Das ist eben das Problem. Wenn die Dinge einfach zu kopieren wären, würde es jeder machen und jeder wäre erfolgreich. Warum aber werden diese Geschichten immer noch gekauft? Welcher Irrglaube liegt der Vorstellung zugrunde, Erfolgsrezepte ließen sich übertragen auf das eigene Unternehmen?

Haben uns diese „Analysen“ und „Erkenntnisse“ dem Phänomen „Führung“ wirklich näher gebracht? Führen wir heute besser als vor vierzig Jahren? Verstehen wir heute wirklich besser, wie geführt werden muss, um erfolgreich zu sein und das Potenzial in der eigenen Organisation bzw. den Mitarbeitern zu wecken?

Ich glaube, wir sind, wie es so schön heißt, „still confused, but on a higher level“, also im Grunde immer noch ahnungslos bis unsicher, obwohl wir unendlich viele Seminare besucht, Bücher gelesen und „Experten“ engagiert haben.

 Mir scheint, als stünden wir immer noch vor dem Baum der Erkenntnis, dessen einzige Botschaft ist: Der eine kann es, der andere nicht. Und somit erschöpft sich, völlig logisch, die Erarbeitung eines Führungskonze ptes pri mär auf die Suche nach talentierte n Führungskräften.

Ich kenne viele Unternehmen, die sich der Bedeutung von „Führung“ so weit verschrieben haben, dass die mittleren Führungsebenen nur mehr „Coaches“ sind, d.h. man glaubt, dass, wer nur noch führt, dies auch gut mache. Dabei funktioniert manch eine Organisation sehr gut, gerade weil sich die Führungskraft mit ihrer Führungsarbeit zurückhält.

Und so sitzen Tausende von Führungskräften in den Unternehmen und zermartern sich das Hirn, was sie den ganzen Tag machen sollen. Entsprechend viel Unsinn kommt dabei heraus.

Was aber motiviert Unternehmensleitungen dazu, ganze Leitungsebenen für „Führung“ freizuschaufeln, Milliarden Euro jedes Jahr für Führungsseminare und Coaching-Programme auszugeben, obwohl meines Wissens noch niemand einen überzeugenden Beleg für die Existenz eines positiven Zusammenhangs zwischen „Führungs“ -Aufwand und Unternehmenserfolg gefunden hat.

Damit kein Missverständnis entsteht: Auch ich bezweifle den prinzipiellen Nutzen von „Führung“ nicht, aber ich bezweifle, dass der Wirkungsmechanismus, den man im Allgemeinen mit „Führung“ assoziiert, richtig ist. Und weil dem so ist, denke ich, dass wir Führungserfolge nur zufällig, niemals richtig hergeleitet, erzielen, d.h. dass wir prinzipiell falsch „führen“. Was meine ich damit?

Um zu erläutern, wie ich zu dieser rüden Bewertung komme, möchte ich Sie auf eine kleine Zeitreise mitnehmen.

Wir landen im 18. Jahrhundert, die Wissenschaftler haben den „Bau der Welt“ entschlüsselt und herausgefunden, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Insbesondere Isaac Newton und René Descartes haben alle relevanten Erkenntnisse verarbeitet und eine neue Ebene des Verständnisses der Welt entwickelt. Newton, der endgültig zeigte, dass die Mathematik die Laufbahnen der Planeten (weitgehend) berechnen konnte und damit die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens neu definierte, und Descartes, der die Vernunft des Menschen und nicht mehr den göttlichen Willen in das Zentrum seines Denkens stellte, schufen ein Gedankengebäude und eine Denkweise, die die Methodiken zur Erkenntnisgewinnung über Jahrhunderte bis in unsere Zeit prägten.

Wer etwas erreichen wollte, musste seine Erkenntnisse fortan in der Sprache de r Mathematik und/oder als Spezialist einer Teil-Disziplin tun. Man war davon überzeugt, dass die Welt ein gigantisches Uhrwerk war, dessen Teile man entschlüsseln konnte, um Einfluss darauf zu nehmen.

 Überliefert ist die Aussage des französischen Ökonome n Pierre-Simon Laplace, den Napoleon nach einer Darstellung des Laplaceschen Modells der Wirtschaftskreisläufe nach der Rolle Gottes fragte: „Sire, diese Hypothese benötige ich nicht länger“.

In dieser „Ursuppe“ entstanden also die ersten ökonomischen Erkenntnisse. Adam Smith, der Urvater der Ökonomie, schrieb in seinem „Wealth of Nations“ bereits von dem riesigen „Uhrwerk“ der ökonomischen Prozesse. Und während sich später die Naturwissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufmachten, völlig neue Sichten auf die Abläufe und Zusammenhänge unserer Welt zu e ntwickeln, die wir als Relativitätstheorie und Quantenmechanik kennen, wurde die Ökonomie mit ihrem jahrhundertealten Wissen und Methodik-Arsenal plötzlich eine bedeutsame Disziplin; denn die Industrialisierung hatte eingesetzt und Ökonomie war in aller Munde.

Ein weiterer Meilenstein der Ökonomie- und Management-Geschichte ist Henry Ford, der mit der industriellen Fertigung von Fahrzeugen die Güterproduktion revolutionierte. Kern seiner Idee war wiederum eine mit der Präzision eines Uhrwerkes arbeitende Produktions- Mechanik, in der ungelernte Arbeiter anhand einfacher, eng definierter Tätigkeiten Nutzen- und Gewinn-bringend eingesetzt werden konnten (Taylor ́sche Arbeitsteilung).

Dies ist sehr wichtig, denn es prägt unser Führungsverständnis noch heute ganz überwiegend. Der Mensch war ein Teil einer gigantischen Maschine; er war ungelernt und musste daher aufwendig überwacht werden, denn man konnte von ihm keine Identifikation mit dem Produkt oder gar dem Unternehmen erwarten. Seine Mitwirkung beschränkte sich auf kleine, sich immer wiederholende und einfache Tätigkeiten wie dem Festziehen bestimmter Schrauben am Chassis des Fahrzeuges. Charly Chaplin hat den Charakter dieser Methode in „Modern Times“ genial analysiert.

Über die Jahre wurden diese Tätigkeiten dann immer weiter von Maschinen und Robotern übernommen, so dass wir diese extremen Formen spezialisierter Produktionsvorgänge heute nicht mehr kennen, unser Management-Verständnis prägen sie aber heute immer noch. Es hat sich im Management-Verständnis tief verankert, dass Organisationen Uhrwerke sind, die so zu laufen haben, wie es sich das Management vorstellt. Heute sprechen wir nicht mehr von Taylor`scher Arbeitsteilung, sondern von Prozess-Modellen, Process-Reengineering oder Workflow-Management. Im Kern ist das aber immer noch das Gleiche: Mitarbeiter sind Teil des Uhrwerkes, und wenn Prozesse nicht eingehalten werden, ist etwas kaputt, meistens der Mitarbeiter. Der Mitarbeiter ist deshalb „kaputt“, weil er nicht richtig eingesetzt, also geführt wird, und damit schließt sich der Kreis unserer Zeitreise.

Unser „mechanisches“ Verständnis vom Wirkungsgefüge der Natur stammt aus dem 18. Jahrhundert, als die Menschen noch sehr viel andere Vorstellungen vom Verlauf der Welt hatten als wir sie heute haben.

 Wir wissen heute, dass die reale Welt sehr viel komplizierter ist als es die Mechanik erfassen und erklären kann. Die einstmals beherrschende Disziplin der Mechanik ist heute eine eher unbedeutende Teil-Disziplin der Physik. Dennoch sind Manager von heute überwiegend „Mechaniker“. In einem der nächsten STANDPUNKTE werde ich die vielfältigen Probleme, die das mechanische Führungsverständnis verursacht, detaillierter analysieren, vor allem, weil mit der „Mobilisierung“ ein Modell zur Übe rwindung vieler Mechanik -Proble me existiert.

So wie die Mechanik auch heute noch in bestimmten Teilbereichen ihre unbestrittene Bedeutung hat, so ist auch die Prozess-Sicht in bestimmten Feldern unabdingbar. Wir dürfen sie nur nicht länger als den Kern in unsere m Führungsverständnis betrachte n. Organisationen sind keine Uhrwerke, sondern soziale Netzwerk-Systeme, die prinzipiell anders, nämlich chaotisch, funktioniere n. Jeder Me nsch ist eigen, und daher sind Organisationen heterogen und Situationen immer individuell. Erfolgsmodelle von anderen Unternehmen lassen sich prinzipiell nicht übertragen, weil jede Organisation individuell und eigen ist. Dies macht sie übrigens ja auch aus (s. Seele). Diese Eigenheit und Identität hat ganz überwiegend mit den Menschen zu tun, die sie gestalten.

Während der „Mechaniker“ danach strebt, das Uhrwerk in Gang zu halten, indem er Führungskräfte und Mitarbeiter „schult“ und „coacht“, der strebt intuitiv nach Kontrolle. Kontrolle ist aber im Führungs-Zusammenhang ein problematischer Begriff, weil Misstrauen und Entmündigung nicht weit weg sind. Es muss nicht überraschen, dass in extrem kontroll- orientierten Organisationen die Eigenmotivation der Mitarbeiter und ihre Identifikation mit den Arbeitsergebnissen nicht sehr hoch sind. Entsprechend hoch ist der Kontroll- oder Controlling-Aufwand, der durch entsprechende Stabseinheiten zu leisten ist. Dazu zählen neben den eigentlichen Controlling-Einheiten auch Vertriebsmanagement, Produktentwicklung, Personalentwicklung und externe Kosten für Coaching und Führung. Es ist eben kein Zufall, dass bei vielen großen Unternehmen die Cost-Income-Ratio (CIR) besonders schlecht ist, weil die „Kontroll-Kosten“ der Organisation exorbitant sind. Ich stelle häufiger fest, dass potenzielle Economies-of-Scale durch eben diese Kontroll-Kosten aufgezehrt werden, die ihre Ursache in nichts anderem als dem gelebten mechanischen Führungsprinzip haben.

Wer die Mechanik im Führungsverständnis überwindet, löst damit noch nicht automatisch alle Führungsprobleme, aber er akzeptiert, dass ein bestimmter Führungsimpuls bei vielen Empfängern jeweils unterschiedlich aufgenommen wird, und dass die entsprechend unterschiedlichen Übersetzungen in die gelebte Praxis jedes Einzelnen nicht bedeutet, dass die Uhr kaputt ist, sondern dass es eben nicht ausreicht, nur einen Führungsimpuls auszusenden, wenn man möchte, dass sich bestimmte Dinge in eine gewollte Richtung ändern.

Und es bedeutet, dass man es sich viel zu einfach macht, wenn man als Manager glaubt, nur alles bei den Führungskräften abladen zu können.

So wie die Physiker lernen mussten, dass aus den wenigen ungelösten „Rand-Problemen“ der Mechanik Ende des 19. Jahrhunderts ein vollkommen neues Weltbild entstanden ist, stehen die Manager vor der Erkenntnis, dass „Führung“ wohl doch auch ganz anders funktioniert als in den einfachen Modellen der Mechanik.

Ihr
Dr. Hans-Dieter Krönung